Hannahs Briefe
geschmeckt, wie das Besteck ausgesehen hatte und wie die Stimmung gewesen war. Jedes Mal verdarb irgendein rücksichtsloser Schwätzer den anderen die Laune mit seinen unpassenden Wahrheiten, oder es gab jemanden, um dessen Gesundheit man sich sorgte. Immer war ein Fisch versalzen oder es gab einen leckeren Kuchen mit Nüssen und Rosinen.
Max waren diese Menschen seltsam vertraut, er wusste genauestens über ihr Leben Bescheid. Wie waren sie sich doch ähnlich und dann auch wieder so verschieden, und alle verbargen sie dieselben Geheimnisse voreinander, damit ja niemand erriet, was im Grunde jeder wusste! Mit eiserner Faust – und Holzbein – verteidigten sie ihre Ehre, so wie auch der Schuhmacher selbst.
In Gedanken versunken kehrte er zurück nach Hause. Warum hatte er zum ersten Mal seit Polen gefastet, wenn er weder Schuld empfand noch gläubig war? Die Antwort kam ihm, während er sich ein Spiegelei briet. Es verband ihn mit dem Vater, mit den Großeltern, der großen, zeitlosen Familie, zu der auch Hannah gehörte. Er stieß auf das neue Jahr an. Aber was sollte 5698 schon Neues für ihn bereithalten?
Immer weniger Landsleute kamen in die Werkstatt, stattdessen kümmerte er sich vermehrt um Stiefelund Pistolenhalfter. Regelmäßig hielten schwarze Wagen mit gewohnter Indiskretion vor seiner Tür. Sogar Hauptmann Avelar führte gern seine Medaillen in der Rua Visconde de Itaúna spazieren. Aus diesen und anderen Gründen zog Max sich die offensichtliche Antipathie, aber auch die Ehrfurcht seiner Nachbarn zu. Einmal flehte eine Mutter ihn an, ihr Nachricht von ihrer verhafteten Tochter zu überbringen, woraufhin Max sie prompt hinauswarf. Das fehlte ihm noch: War er vielleicht eine Zweigstelle der Polizei? Unterdessen ging es in der Rua da Relação mit seiner Karriere bergauf, er war jetzt damit beauftragt, Juden zu vernehmen, die kein Portugiesisch sprachen oder sprechen wollten, normalerweise handelte es sich dabei um Auswärtige oder solche, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen.
»Die sollen uns in Ruhe lassen!«, beschwerte sich ein Gaucho, den man verhaftet hatte, während er in Rio nach Arbeit suchte. »Wir machen doch gar nichts! Außerdem sind wir viel zu wenige, da spielt es noch nicht mal eine Rolle, ob wir friedfertig sind oder nicht. Stattdessen sollten sie sich lieber um die Deutschen unten im Süden kümmern. Von denen geht die eigentliche Gefahr aus!«
Er hatte recht. In Santa Catarina und Rio Grande do Sul lebten Tausende von Deutschen und deren Nachkommen, die sich weigerten, Portugiesisch zu sprechen, und deren Kinder in der Schule ihren Unterrichtsstoff aus Berlin bekamen. Für sie war die Angliederung Brasiliens an das Dritte Reich nur eineFrage der Zeit, bald schon würde das Hakenkreuz im Regierungspalast schwingen. Jedes Jahr im April feierten die Gemeinden dort mit Umzügen und großem Trara den Geburtstag des Führers.
Max verbarg sein Mitgefühl und notierte etwas in ein Heftchen.
»Du suchst Arbeit, mein Junge? Wo wohnst du?«
Am nächsten Tag erhielt der Gaucho Besuch von einem alten Tischler, der einen Gehilfen brauchte. Nein, der Tischler war weder mit Max befreundet, noch hatte er eine Anzeige aufgegeben. Woher Max von ihm wusste? Durch die Briefe natürlich.
* * *
Rio de Janeiro, 1. Oktober 1937
Liebe Guita,
Simchat Thora ist das Fest der Lehre. Deshalb widme ich diesen Brief einem besonderen Thema: der Unkenntnis. Die Unkenntnis ist immerhin die Mutter der Kenntnis! Indem wir lernen, etwas nicht zu wissen, lernen wir zu verstehen. Die Unkenntnis lehrt uns, mit dem Unbekannten, dem Schmerz, dem Nein umzugehen. Und uns einzugestehen, dass es nicht auf alles eine Antwort gibt. Wie unsere Gelehrten sagen, beinhaltet die richtige Frage schon die halbe Antwort.
Lerne, das Schweigen zu schätzen. Aus dem Schweigen entstehen die besten Antworten. Manchekommen intuitiv, sie stammen aus einer anderen Welt und fürchten sich vor unserer. Sie fliehen vor dem geringsten Lärm. Misstraue den bequemen und den absoluten Antworten, die keine Fragen zulassen. Unsere Zweifel sind keine Krater, sondern Horizonte. Warum schauen wir sie uns nicht in Ruhe an, statt sie einfach zuzustopfen?
Ben Sira lehrt uns: »Suche nicht nach dem Verborgenen, sondern versuche zu verstehen, was dir gegeben wurde.« Mit dem Zweifel zu leben kann besser sein, als ihn zu bekämpfen. Wer das Unbekannte nicht zulässt, läuft außerdem Gefahr, nur Fragen zu stellen, auf die er auch Antworten hat.
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