Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
Vom Netzwerk:
nahm. Ihre Finger waren voller Ringe, und – oj wej – jeder Nagel war in einer anderen Farbe lackiert.
    In verächtlichem Tonfall fragte sie: »Was arbeiten Sie?«
    »Ich bin Schuhmacher. Meine Werkstatt ist in der Rua Visconde de Itaúna, in der Nähe der Praça Onze.«
    »Was haben Sie da in dem Koffer?«
    »Bücher.«
    »Bücher, wozu?«
    Plötzlich waren Schreie zu hören. Sie kamen aus einem anderen Zimmer, spitz und wiederholt.
    »Was ist das?« Max war aufgebracht. »Was ist das?«
    Fany musste lachen, da riss ein weiterer Schrei den Schuhmacher aus dem Sessel. Er sperrte die Ohren auf und stieß gegen mehrere Möbelstücke.
    »Mein Gott, woher kommt das?«
    »Es ist alles in Ordnung, Senhor! Bitte beruhigen Sie sich!« Sie packte den verwirrten Max am Arm.
    »Was ist das? Ist das Hannah?«
    »Natürlich ist sie das!«
    Panik.
    »Wo ist sie?«
    Sie wollte ihn festhalten, aber Max stieß sie weg und lief in den Flur. Hannah heulte wie eine Wölfin hinter einer Tür, die Max zu öffnen versuchte. Sie war abgeschlossen. Er hämmerte mit der Faust dagegen.
    »Hannah, Hannah!«
    Jemand hustete krampfhaft. Was ging dort vor sich? Tat man ihr weh? Fany flehte ihn an, zurück ins Wohnzimmer zu kommen, ging mit ihren bunten Fingernägeln auf ihn los und warf ihm die übelsten Schimpfwörter an den Kopf. Doch bevor ihm sein Verstand zu Hilfe kam, ging die Tür auf und offenbarte den Urheber des Hustens: Der korpulente Hauptmann Avelar stand, in ein Laken gewickelt, vor ihm und roch nach Sex. Max war wie versteinert. Neben ihm, fuchsteufelswild,Hannah, die wissen wollte, was zum Teufel los war. Sie war splitternackt.
    Max spürte, dass er ohnmächtig wurde. Plötzlich ergab alles einen Sinn.
    »Senhor Kutner?«, waren die letzten Worte, die er hörte.

Kapitel 4
    Polen, 1896
    Artur wurde von einem seltsamen Keuchen geweckt. Er sah zu der Kerze auf dem Nachttisch, die der Wind um Punkt fünf Uhr ausgelöscht hatte. Er hätte dieses Geräusch lieber nicht gehört. Die Hähne begannen bereits zu krähen, als er feststellte, dass sein Bruder im Bett nebenan tot war. Traurig seufzend strich er ihm über das leblose Gesicht. Dann ging er über die knarrenden Dielen zu den Eltern. Die Mutter eilte an den Herd, um Tee für den Besuch aufzuwärmen, während der Vater von Tür zu Tür lief und die Dorfbewohner informierte. Er war ein sanfter, liebenswerter Junge gewesen. Schon seit Jahren hatte er an Schwindsucht gelitten, war immer weiter abgemagert, hatte Blut gespuckt und so das Leben in der Hütte bestimmt, in der sie zu viert – und jetzt nur noch zu dritt – hausten.
    Die Nachbarn wuschen den Jungen und wickelten ihn in ein weißes Laken. Alles ging schnell, niemand weinte oder zerriss sich vor Trauer die Kleider. Auf dem Friedhof sprach der Vater das Kaddisch, die Leiche ging ohne Sarg ins Grab. Die häuslichen Gebetedauerten eine Woche, aber da die Arbeit nicht warten konnte, kürzte man die Trauerzeit ab.
    Mit seinen sechzehn Jahren kannte Artur diese Rituale bereits. Im Dorf wurde mehr gestorben als gelebt. Und nicht nur dort. Hunger, Kälte, Elend, Massaker hatten Millionen von Juden in Osteuropa unter die Erde gebracht. In Russland war eine ganze Gemeinde niedergemetzelt worden, nachdem man sie beschuldigt hatte, Flüsse und Brunnen zu verseuchen sowie Kinder von Christen zu opfern, um mit ihrem Blut Matze für das Pessachfest zu backen. Viele flohen und versuchten ihr »Glück in Amerika«, wo man jeden Tag Orangen aß und die Häuser so groß waren wie Berge. »Argentinien« war ein anderes Zauberwort, neben dem »jüdischen Staat«, der im Mittleren Osten errichtet werden sollte. »Alles Träumereien!«, kommentierte der stets in Schal und Riemen gewickelte Vater verächtlich und vertraute lieber auf den Schöpfer. Sein ungläubiger Sohn hingegen bevorzugte Juwelen und schöne Frauen – die es in Lowicz definitiv nicht gab. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, angestachelt von Reisenden, die Neues aus Warschau berichteten.
    Die Tage im Dorf glichen einander wie ein Ei dem anderen. Die Sonne ließ sich kaum blicken. Und so trottete ein Dutzend bärtiger Männer regelmäßig durch den Morast zum Beten ins Haus des Schammes. Dort diskutierten sie über die Thora und rissen Witze. Erst dann, belehrt und gesegnet, machten sie sich an die Arbeit, die ihnen gerade mal ein wenig Brot undan den Samstagen ein Huhn einbrachte. Die meisten zogen in die Umgebung und überließen das Dorf den Frauen und Kindern. Die

Weitere Kostenlose Bücher