Hannahs Briefe
Fest war, bei dem jeder nach dem Glauben des Nächsten schielte und ein Stück weit von seinem abrückte, warum sollte Max da eine Ausnahme bilden?
Er stieg den Morro da Providência hoch bis zu einem kleinen Platz, an dem ein paar Männer in einer Spelunke saßen und tranken. Steile Anhöhen und Sündenpfuhle machten das Leben manchmal zu einem akrobatischen Akt. Oben angekommen, kaufte er die Kerze, so wie Dina es ihm aufgetragen hatte: »Nicht eine, nicht drei: zwei Farben!« Shlomo mögeihm verzeihen, aber auch in Polen sorgte der Aberglaube dafür, dass die Lebensmittelpreise anstiegen. In manchen Gegenden vertrieben Knoblauch und Zwiebeln häufiger den Teufel als den Hunger.
Im Grunde bezweifelte Max natürlich, dass Kerzen und Bittgesuche die Welt veränderten. Gesänge, Amulette, Weihrauch. Fiel Gott denn wirklich auf solche billigen Tricks rein? Reichten seine Allwissenheit und seine Güte nicht aus, um zwischen Lobhudelei und Vernunft zu unterscheiden? Wie viele Gläubige, die sich den Traditionen verbunden fühlten, vergaßen am Ende die Werte, auf denen sie beruhten? Wie viele Riten waren nichts anderes als zwanghafte Gewohnheiten, heuchlerische mechanische Gesten? Wie viele Frömmler beteten nur deswegen zu Gott, weil sie ihm nicht mit Schwertern und Gewehren entgegentreten konnten?
Zu Hause schrieb Max Hannahs Namen auf ein Blatt Papier, schaltete das Licht aus und zündete ein Streichholz an. Die Flamme tanzte erst zaghaft über dem Docht, als läge sie in den letzten Zügen, bis sie plötzlich mit einer Wucht aufloderte, die jede Skepsis im Keim erstickte. Shlomo geriet ins Schwitzen. Wie Dina vermutet hatte: »Diese Frau ist mit Oxum im Bunde« – besser gesagt, sie war Oxums Aguna .
* * *
»Ein Glas, eine Zigarette, irgendetwas, das sie mit dem Mund berührt hat.« Max stand an den guten altenMandelbaum gelehnt und rief sich Dinas Anweisung ins Gedächtnis. Zwei Stunden lang musste er warten, bis die Geliebte in einem reizenden hellblauen Kleid erschien, dazu weiße Handtasche und Schuhe. In aller Ruhe schlenderte sie los und ließ den Blick umherschweifen. Nichts an ihr erinnerte an die Frau, die neulich in aller Eile in eine Limousine geschlüpft war. Auch später nicht, als sie in Estácio in eine dieser berüchtigten Straßenbahnen stieg, in denen sonst nur Wäscherinnen und Marktfrauen mit ihren Bündeln und sogar Tieren mitfuhren. Max traute seinen Augen nicht. Niemand, der etwas auf sich hielt, setzte auch nur einen Fuß in diese Schweinetransporter. Nicht mal Fenster hatten sie, diese fliegenden Kisten.
»Taxi! Folgen Sie der Straßenbahn!«
Der Wagen fuhr über Cidade Nova in Richtung Zentrum, vorbei am Platz der Republik und am Largo da Carioca bis zur Galeria Cruzeiro, dem Herzen der Avenida Rio Branco. Hannah kaufte in einem Tabakladen Zigaretten und lief durch enge Straßen voller Menschen. Sie war wunderschön, wie sie an den Schaufenstern der Rua Gonçalves Dias vorbeiflanierte, bevor sie dann in der Confeitaria Colombo verschwand und etwas Süßes bestellte. Max erbebte: Eine Gabel oder Serviette – das war genau, was er brauchte! Nie hätte er geglaubt, dass es so einfach sein würde, sie zu erobern. Möge der Gott von Moses ihm verzeihen, aber das Angebot der Konkurrenz war einfach zu verlockend.
Plötzlich spitze Schreie. Eine blonde Frau umarmte Hannah am Tresen. Max riss die Augen auf: eine Freundin? Sie unterhielten sich angeregt, während Hannah ein Tellerchen in der Hand hielt und die Gabel zum Mund führte, mit deren Hilfe Dina sie verhexen würde. Die Blonde lachte und gestikulierte, Hannah hörte ihr zu, und Max starrte auf seine schimmernde Beute, die zusammen mit dem Teller wieder auf dem Tresen lag. Hannah sagte etwas zu ihrer Bekannten, durchquerte dann den Raum in Richtung Kasse und öffnete ihre Handtasche. Zeit zu handeln, fand der Schuhmacher. Im Namen der Orixás!
Schnurstracks steuerte Max auf den Tresen zu, rempelte hier und dort jemanden an und erstarrte auf einmal vor Schreck. Ein schrecklicher, ein unvorstellbarer Anblick bot sich ihm. Er sah, wie die Blonde den Teller leer kratzte und sich verstohlen die Gabel in den Mund schob. Das konnte doch nicht wahr sein! Die Spitzbübin sah sich nach allen Seiten um, während Hannah die Rechnung bezahlte. Verdammtes Miststück! Und dann wischte sie sich auch noch mit dem Handrücken über den Mund und lutschte jeden Finger einzeln ab. Diese Sau!
Draußen küssten sich die beiden zum Abschied auf die Wange
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