Hannahs Briefe
und trennten sich. Menschenmengen eilten in alle möglichen Richtungen. Hannah bummelte noch drei Straßen weiter, setzte sich schließlich am Largo de São Francisco auf eine Bank und zündete sich eine Zigarette an. Sie schlug die Beine übereinander und begann mit den Händen ihren gestischenTanz. Langsam zog sie den Rauch ein – waren es die Tauben um sie herum, die sie betrachtete? Nein, sicher sah sie nur zufällig in ihre Richtung. Hannah lebte in einer anderen Welt, ihre Ausflüge in diese waren nur flüchtiges Exil, ein notwendiges Übel.
Max stand ein Stück weit entfernt vor einem Kiosk und tat so, als sehe er sich die Lotterielose an. Nein, er glaubte nicht länger an Hannahs Unschuld, er hätte wetten können, dass sie Guita anlog. War sie wirklich verheiratet? Als was arbeitete sie? Und Josef, wer war Josef? Mit anderen Worten, wer war Hannah?
Max streckte den Kopf vor, als sie den letzten Zug nahm und die glühende Kippe wegschnippte. Dann stand sie auf und ging. Max sah sich nach dem Zigarettenstummel um, aber damit kam er nicht weit: Auf dem Boden lagen Tausende von Kippen. Tausende! Dreck , und jetzt? Aber ja, er würde sie am Lippenstift erkennen! Max hockte sich hin, kroch auf allen vieren zwischen den Tauben herum und inspizierte im Licht der Mittagssonne eine Kippe nach der anderen. Fünf, zehn, zwanzig, und kein einziger rosa Fleck, nirgends eine Spur von Lippenstift. Bald schon machte ihn ein Bettler nach und lockte ein amüsiertes Publikum an. Ein Polizist bahnte sich neugierig seinen Weg durch die Zuschauer. Gerade wollte er Max ansprechen, da hörte dieser zu seiner Bestürzung eine andere Stimme:
»Senhor Kutner?«
Es war Hannah. Sie hatte ihre Zigaretten auf der Bank liegenlassen und war zurückgekommen.
»Ist alles in Ordnung?«
Max rührte sich nicht.
»Suchen Sie etwas, Senhor Kutner?«
»Nein …«
Hannah reichte ihm die Hand, Max stand auf. Er war leichenblass.
»Ich suche nichts.« Ihm wurde übel. »Nichts, absolut nichts.«
Die Menge löste sich auf. Max räusperte sich, um Zeit zu gewinnen. Sein Mund war trocken, er zitterte. Hannah sah ihn freundlich an, ohne nach einer Erklärung zu verlangen.
»Die Engel!«
»Engel, Senhor Kutner?«
»Ja, die Engel! Sie sind unter uns.«
Hannah überspielte ihre Verwunderung.
Max fuhr fort: »Dies ist der richtige Augenblick.« Ein Schwindel ergriff ihn. »Aber vergessen sie eines nicht: Die Engel haben ihre eigenen Engel.«
»Haben Sie getrunken?«
»Ich brauche Sie! Reichen Sie mir die Hand!«
Hannah brachte ihn in ein Café und bestellte Brot mit Butter. Er kaute abwesend darauf herum.
»Geht es besser, Senhor Kutner?«
Max nickte, zum Glück hatte er den Mund voll.
»Da bin ich aber froh«, seufzte Hannah. »Ruhen Sie sich aus.«
Und dann war sie verschwunden.
* * *
Alle erhoben sich, um das Schofar zu hören. Ein Mann mit einem weißen Schal trat hinauf zum Pult der Synagoge und blies in das Widderhorn. Es war Jom Kippur, der Tag der Versöhnung, an dem die Juden fasteten und für die Sünden büßten, die sie im vergangenen Jahr begangen hatten.
Der vor kurzem eröffnete Große Israelitische Tempel war mit seinen bunten Fenstern und einem eigenen Mezzanin für Frauen der ganze Stolz der Gemeinde. Nicht mal in Buenos Aires gab es etwas Vergleichbares. Ein Mosaik umgab den Schrein mit den Thorarollen, die für die Feiertage einen weißen Mantel trugen. Doch nur wenige blickten optimistisch auf das neue Jahr. Die Regierung Vargas beschuldigte die Juden, einen Putsch anzuzetteln, um in Brasilien den Kommunismus durchzusetzen. Aufstände, Randale und Mordanschläge seien Teil der von den Militärs aufgedeckten »jüdischen Verschwörung«, des sogenannten Plano Cohen . Max wusste, dass das Ganze eine Farce war, um das Volk zu täuschen und Untaten wie die Auslieferung der Bolschewikin Olga Benário an Hitler zu rechtfertigen.
Nach der Zeremonie folgten die gegenseitigen Glückwünsche. Max erkannte Dona Ethel von den Bnei Jisrael und nickte ihr unauffällig zu. Kurz darauf bot ihm im Treppenhaus jemand zum Fastenbrechen einen Karamellbonbon an. Nach und nach gewöhnte der Schuhmacher sich an die Seitenblicke und das Geflüster. Inzwischen wussten selbst die Bäume auf der Praça Onze, dass er für die Polizei arbeitete. Vielleichtgingen ihm deshalb die meisten aus dem Weg, geschweige denn, dass ihn jemand zum Abendessen eingeladen hätte. Na und? Er würde ja doch alles bis ins kleinste Detail erfahren – wie es
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