Hannahs Briefe
Im Leben dieser Menschen bedingen die Antworten die Fragen und nicht umgekehrt. Die Fragen sind nur die Einleitung für ihre armseligen Gewissheiten.
Für Simchat Thora bin ich von Haus zu Haus gezogen und habe jiddische Bücher gesammelt. Nächste Woche will ich sie einem Altenheim spenden.
Josef lässt Dich grüßen! Küsse,
Hannah
***
Der stets in Lumpen gekleidete Mendel F. erweckte eher Mitleid als Empörung, wenn er die Passanten beleidigte. Er wusch sich im Brunnen auf der Praça Onze und lag oft schnarchend in der Ecke. Sein Alter war nicht bekannt, angeblich hatte er ein Massaker in der Ukraine überlebt und konnte sich nicht erinnern, wieer nach Brasilien gekommen war. Kurz, er war das, was man einen Penner nannte.
An jenem Nachmittag war Mendel F. erstaunlich ruhig und regelrecht höflich, er trug glänzende Schuhe und nannte Max Kutner einen Heiligen.
»Gebt dem Schuhmacher Bücher! Bücher auf Jiddisch!«
Wenige Stunden später hatte sich seine Werkstatt in eine Bibliothek verwandelt. Prosa und Lyrik, von Rabbinern verfasste Texte, Wörterbücher, sogar einzelne Bände von Enzyklopädien brachte man ihm im Tausch gegen seine Dienste. Am frühen Abend packte Max einen Koffer voller Weisheiten: Tolstoi, Scholem Alejchem, Dostojewski. Er blätterte ein wenig darin, las einzelne Strophen und Absätze. In einem der Bücher schilderte Ivan Illich seinen eigenen Tod. In einem anderen gewann ein armer Schneider im Lotto. Oj, main Got, wie gut das geschrieben war! So ganz anders als seine banalen Briefe, die zudem voller Rechtschreibfehler waren! Nichts war besser geeignet, die Praça Onze ins rechte Licht zu stellen als die Vortrefflichkeit dieser Meister. Max seufzte traurig und beklagte sein Schicksal, bevor er leicht widerwillig zugeben musste, dass er in seinem tiefsten Inneren die guten alten Briefe bevorzugte. Sicher, in der Regel waren sie etwas konfus, aber immer menschlich und offen, ohne Schutzschild oder irgendwelche literarischen Ambitionen. Max mochte auch die Tintenkleckse und die ausradierten Stellen, manchmal kam es ihm vor, als spräche die Schrift für sich, undnicht selten widersprach sie dabei ihrem Inhalt. »Ich bin ganz ruhig«, stand da in zittrigen Buchstaben. Ganz zu schweigen von den Tränen, Parfümen und roten Kussmündern auf dem Papier. Wie oft hatte Max das Gefühl, einen Satz anders deuten zu müssen, und ließ sich zu gewagten Interpretationen hinreißen. Eines Tages traf er beim Schlachter Abram G. und hätte ihn fast gefragt, was er mit einem bestimmten chassidistischen Gleichnis gemeint habe. Als ein anderes Mal Dorinha K. ihre Schuhe abholen kam, konnte er seine Zunge nicht im Zaum halten: »Es war Raskolnikow, der die Alte umgebracht hat, und nicht Fjodorowitsch.« Die Frau kratzte sich verwirrt am Kopf.
Das große Problem waren die unübersetzbaren Stellen. Es gab keine verlässlichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Jiddischen und dem Portugiesischen, beide Welten waren völlig verschieden. Seiner Herkunft entsprechend tendierte das Jiddische zu einer liebenswerten Kratzbürstigkeit. Das Beurteilende, das Sich-Einmischen, die Ironie des »jüdischen Jargons« hatten eine derart verbindliche Intimität, dass sich die üblichen Höflichkeitsbekundungen erübrigten. Manchmal klang Jiddisch wie ein Familienstreit inklusive all seiner Traumata, Mythen und Manien. Deshalb kaute Max oft auf seinem Bleistift herum und wusste nicht weiter. Hin und wieder ließ Leutnant Staub ihn rufen, wenn er Fragen zu den Erzählungen, Parabeln oder auch Witzen aus seinem Notizbuch hatte, die meistens eher philosophischerals technischer Natur waren. Auf dem Nachhauseweg in der Straßenbahn führte der Schuhmacher imaginäre Gespräche, überprüfte Ansichten, widerrief Überzeugungen. Unter anderem über sich selbst.
Hannah zum Beispiel. Was anderes hatte sie getan, als seine Liebe und Begeisterung zu entfachen, sein vor lauter Apathie wässriges Blut zu verdicken? Vielleicht war die Sache viel einfacher und all die vermeintlich romantischen und existentiellen Gefühle nichts anderes als bloßer Trieb – da war der Mensch dem Tier gleich –, den er nur zu überhöhen versuchte, um seine rohen Instinkte zu überspielen. Wie auch immer, es war zehn Uhr morgens, als das Taxi vor dem Topas-Haus hielt.
»Dreihundertzehn«, sagte der Portier.
Max schleppte den Koffer durch die Eingangshalle, seine Nervosität war nicht zu übersehen. Was sollte er sagen? Ganz einfach: Ein Kunde – an den
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