Hannahs Briefe
Namen konnte er sich nicht erinnern – habe ihn informiert, dass Hannah einem Altenheim zu Simchat Thora Bücher spenden wollte. Nun, ihm mache es nichts aus, einen Teil seines sehr großen und abwechslungsreichen Bestandes abzutreten, zumal er ein großer Literaturliebhaber sei. In seiner Freizeit tue er nichts lieber, als dazuzulernen, seine Kenntnisse zu vertiefen und, vor allem, sich mit seinen Zweifeln auseinanderzusetzen, schließlich »ist es wichtig, das Unbekannte als solches zu akzeptieren und sich bewusst zu machen, dass die besten Antworten aus demSchweigen entstehen«. Von wem stammte das noch mal? Von Ben Sira oder Tante Sabina?
Nein, besser, er fing gar nicht erst mit so einem Quatsch an. Wie wäre es mit einer ganz normalen, netten Unterhaltung? Wenn er ihr direkt in die Augen sähe, ohne Maske, so wie wir Gott gegenübertreten würden und, nachdem Leid und Verwirrung überwunden sind, den Zweifel beichten: Warum?
Als er den Fahrstuhl rief, drang ein fauliger Luftstoß durch das Kippfenster. Ben Sira oder Tante Sabina, wer hatte gesagt, die richtige Frage beinhalte schon die halbe Antwort? Wer hatte von Sumpfblumen gesprochen und sein Parfüm für den »großen Tag« aufbewahrt? Max rieb sich die verschwitzten Hände. Der Fahrstuhl fuhr langsam, streifte dabei Stromkabel und hielt rüttelnd in mehreren Stockwerken, wo sich jedes Mal die Gittertüren quietschend aufschoben. Oj wej, wie lange das dauerte!
Dreihundertzehn, dreihundertzehn. Der Koffer wog bestimmt dreißig Kilo, der Griff schnitt ihm ins Fleisch. Der Flur war ein einziges Labyrinth, und die Lampen warfen mehr Schatten als Licht. Er wischte sich den Schweiß ab und rückte den Anzug zurecht. Aus Höflichkeit würde er sowohl Hannahs Ehemann als auch Josef begrüßen und, wenn überhaupt, ein paar Belanglosigkeiten austauschen. Max würde im passenden Moment aufstehen (falls er sich denn setzte) und gehen. Geduld und Zielstrebigkeit zahlten sich aus.
Dreihundertzehn stand dort in goldenen Ziffern. Am rechten Türpfosten eine dezente Mesusa . Max holte tief Luft, ihm wurde schwindlig. Wo sollte das bloß enden? Noch gab es ein Zurück, noch konnte er kehrtmachen. Hatten nicht Adam und Eva vor Jahrtausenden denselben Fehler begangen? Er stellte den Koffer hin und klingelte, ein melodiöses Trillern erklang. Fünf, zehn, fünfzehn Sekunden verstrichen. War niemand zu Hause? Er klingelte noch einmal und trocknete sich die Hände an seinem zerknüllten Taschentuch ab. Guten Morgen oder guten Tag? Die Uhr zeigte 12:15. Geräusche, Schritte, dann öffnete sich ein kleines Fensterchen, und zwei Augen richteten sich auf den Schuhmacher. Das Fenster wurde geschlossen. Eine Kette rasselte, ein Riegel wurde aufgeschoben, dann stand eine rundliche, stark geschminkte Dame vor Max und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Als sie den Koffer sah, sagte sie nur:
» Klientelschik? Wir kaufen nichts!« Sie warf ihm die Tür vor der Nase zu.
Max klingelte erneut. Als sich das Fensterchen wieder öffnete, erklärte er in einwandfreiem Jiddisch: »Ich bin kein Klientelschik , ich möchte zu Hannah Kutner.«
»Ah, gut …« Die Tür ging auf. »Treten Sie ein, bitte. Kommen Sie schon. Verzeihen Sie das Chaos.«
Sie war um die fünfzig und sprach ein trällerndes Jiddisch, ihr blaues Kleid war mit Muscheln, Seesternen, Fischen und Seepferdchen bedruckt. Die Frau sah aus wie ein Fischeintopf. Sie verschwand mit wiegendenHüften in einem Zimmer, in dem in zwei Käfigen ein Papagei und ein Kakadu hingen.
»Setzen Sie sich. Ich bin Fany.«
»Ich bin Fany, ich bin Fany!«, kreischte der Papagei.
»Halt den Mund, Josef!« Sie lief rot an. »Verdammtes Mistvieh!«
Josef, ein Papagei? Der Schuhmacher setzte sich in einen bordeauxroten Sessel, den Koffer zwischen die Beine geklemmt, und sah sich staunend um. Wo war er? Viele Juden teilten sich Wohnungen, nannten sie »Pensionen« und richteten sich, so gut es ging, darin ein. Ganze Familien quetschten sich in ein Zimmer und standen Schlange vor dem Bad, während in Wohnzimmern und Küchen lautstarke Versammlungen abgehalten wurden. Max selbst zum Beispiel wohnte unter improvisierten Bedingungen im Hinterzimmer seiner Werkstatt.
Trotzdem stimmte hier etwas nicht, und das lag weder an dem süßlichen Geruch noch an Josef, dem Papagei.
Fany brachte ihm etwas zu trinken und fragte Max, ob er einen Termin habe, Hannah sei »sehr beschäftigt«. Er sagte nein, woraufhin sie ihn um Geduld bat und seinen Koffer ins Visier
Weitere Kostenlose Bücher