Hannahs Briefe
Kelevski!«
»Noch so ein Warschauer Exzentriker«, murmelte der Junge.
Am nächsten Tag stand ein kultivierter Herr mit gestutztem Schnurrbart und Zwicker vor Artur und warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Natürlich! Das Sakko hatte er im Bordell gesehen, und zwar nicht nur einmal. Artur konnte sich denken, was für eine Funktion Dr. Kelevski ausübte, der ihn inzwischen interessiert musterte.
»Ist der Junge Jude?«
»Aus Lowicz«, bestätigte der Schneider.
»Verstehe …«
Kelevski kratzte sich am Schnurrbart, mit einem wissenden Grinsen, das Artur erwiderte. Er legte ein silbernes Feuerzeug, Zigarettenetui, Geld und ein paar Stifte auf den Tisch und bat Artur, alles in die Taschen zu stecken und das Jackett anzuziehen. Er rückte seinen Zwicker zurecht und sagte:
»C’est parfait!«
Dann lächelte er, unter den Augen des irritierten Schneiders. Einen Monat später war Artur Kelevski Adoptivsohn eines Zuhälters und schien sowohl körperlich als auch moralisch bereit für die Aufgaben,die ihm eines Tages zu seinem Vermögen verhelfen und ihn vom heimatlichen Sumpf in ferne Gefilde führen sollten.
* * *
Russland, neun Jahre später
Golda musste einen Schluck Wasser trinken, um nicht in Schluchzen auszubrechen: Ihre Gebete und Gelübde waren erhört worden! Das Weiß stand ihr gut an diesem sternklaren Abend. Die Hochzeit wurde von einem Onkel abgehalten und fand unter freiem Himmel statt, damit die Toten von oben zuschauen konnten. Zum Glück, denn selbst die Lebenden hätten nicht in die einzige Synagoge im Dorf gepasst, ein einfaches Häuschen, das schlicht zu klein war, als dass auch nur ein einziger Gott dort hätte wohnen können. Diverse Gäste trugen von Golda ausgebesserte Garderobe, deren eigenes Kleid auf Wunsch des Bräutigams in aller Eile genäht worden war.
Der schöne junge Mann war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, so unerwartet wie der Messias. Nachdem er auf der ganzen Welt nach der Richtigen gesucht hatte, genügte am Ende ein einziger Blick. Es war ein Herbsttag gewesen, und Golda hatte mit den Kindern aus der Nachbarschaft in der improvisierten Krippe in ihrem Garten gespielt.
»Mit diesem Ring«, sprach der schöne junge Mann jetzt, »bist du mir angetraut nach dem Gesetz von Moses und Israel.«
»Damit bist du verheiratet«, bestätigten die Trauzeugen.
Nur die Kinder zeigten ihre Trauer. Sie wollten sie lieber in Lumpen sehen, die Haare offen, ohne diesen komischen Schleier. Vielleicht ahnten sie, wie sehr sie sie vermissen würden – so erging es im Übrigen allen. Wie sollten sie ohne Golda leben, das fröhlichste und hilfsbereiteste Mädchen von ganz Russland?
Braut und Bräutigam tranken ihren Wein, und Artur zertrat mit sicherem Fuß ein Glas.
Masel tov! Tränen und Umarmungen. Eifersüchtig verfolgten die Männer und Frauen den ersten Kuss und klatschten gehorsam Beifall.
Alle hatten bei der Vorbereitung mitgeholfen. Die ganze Nacht lang erklangen Akkordeons, Klarinetten und Geigen. Die Mädchen besprachen, welche als Erste von ihnen heiraten würde, die Jungen liefen im Mondlicht durch die Felder, und die Frauen trugen ihre schönsten Kleider zur Schau. Aus keinem Hühnerstall mehr war Gackern zu hören, weil alle Tiere, selbst die geliebte einzige Kuh im Dorf, den Erwachsenen die Mägen füllten, während die zu Kompott gewordenen Obstgärten den Kindern die Münder verschmierten. Pasten, Eingemachtes und Gelees standen auf dem Tisch. Das Brautpaar wirbelte unter Gelächter umher, beklatscht von Nüchternen und Betrunkenen. Bald wurden sie hochgehoben und von begeisterten Armen geschüttelt: Masel tov, Masel tov! Von Sibirien bis zum Kaukasus hörte man sie singen. Nicht ganz so laut war das Getuschel: »Golda ist jetzt reich.«
Ihr Bräutigam war ein polnischer Geschäftsmann, der in Amerika lebte und ein Steakrestaurant besaß. Alles koscher, natürlich. Er wohnte in einem Palast mit eigenen Gärten und Seen in …
»New York?«, riet Goldas Vater mit schwerer Zunge.
Artur berichtigte ihn: »Buenos Aires.«
»Ist doch alles Amerika!«, lachte der Schwiegervater.
Am nächsten Morgen umarmte Golda einen nach dem anderen, beschwichtigte sie in ihrem Kummer und nahm ihnen Versprechungen ab. Die Großtante schenkte ihr ein marineblaues Kleid mit Knöpfen aus afrikanischem Elfenbein für ihren ersten Tag in Amerika. Man brachte ihr Bettwäsche, Nippes und einen Bernsteinanhänger. Sie versprach wiederzukommen, sobald das erste Kind da war, aber niemand im
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