Hannahs Briefe
Jungen gingen beim Schammes zur Schule, zwischen verschimmelten Büchern und Keksen, die er auf dem Holzofen backte. Die Mädchen blieben zu Hause. Arturs Vater war Tischler. Er sägte, hämmerte und polierte das Holz von Lowicz. Artur verdiente sich etwas dazu, indem er auf den Feldern der Christen arbeitete und ihre Herden hütete. Nebenbei stahl er Lebensmittel für die Familie, trotz der Warnungen seiner Mutter, es werde ein böses Ende nehmen.
Im September war es dann so weit. »Dieb!«, brüllte der Bauer, begleitet von Gefolgsleuten und bissigen Hunden. Artur warf seine vier Kartoffeln weg und rannte, stolperte über Büschel und Steine, bis ihn die Polen erwischten und fast zu Tode prügelten. Wochenlang lag er im Bett, weinte, ohne eine Träne zu vergießen, rang die knochigen Hände und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Es war Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und zu handeln! Ehrgeiz ohne Initiative war wie eine Glocke ohne Klöppel. Und da ihn der Landgeruch anwiderte, bedeutete das: auf in die Stadt!
Die Morgendämmerung tauchte das Dorf in Rosa, die Männer staksten durch den ersten Schnee des Jahres 1897, und Artur schnürte sein Bündel, aß ein Stück Brot, gab der Mutter einen Kuss und machte sich auf den Weg. Dieser Ort war zu klein für ihn.Am meisten beeindruckten den Jungen die vielen Menschen. In Warschaus Straßen reihten sich die Häuser ehrfürchtig aneinander, während die Mächtigen aus ihren Palästen kamen und in prächtigen Kutschen vorbeifuhren. Bohemiens bevölkerten die Cafés, die sich erst leerten, wenn die Milchmänner den Morgen ankündigten. Auf riesigen Plätzen standen Springbrunnen, Lauben und Statuen. Doch nicht jeder hatte teil an dieser blendenden Pracht. Artur musste sich mit einem anderen Warschau zufriedengeben, voll düsterer Höhlen und Gassen, ranziger Gerüche und zerlumpter Gestalten. Er sprach kaum Polnisch, gestikulierte mit Händen und Füßen wie ein Ertrinkender, hielt sich mit wechselnden Jobs über Wasser, ernährte sich von Resten und übernachtete, von Wein und Schnaps gewärmt, unter freiem Himmel. Er fühlte sich hundeelend. Seine Träume und Hoffnungen waren dahin, aber nach Lowicz zurückzukehren kam nicht in Frage. Ebenso wenig wie Beten: Sein Glaube war mit dem Bruder gestorben. Er brauchte Geld, selbst wenn er sich dafür der Wohlfahrt zuwenden musste – oder dem Verbrechen.
Sich vor die Synagoge zu stellen war seine letzte – erfolgreiche – Ausflucht. Im Februar erhielt er eine Anstellung bei einem jüdischen Schneider. Durch seine Hände gingen Kaschmir, Seide und Leinen, die, wenn auch nicht von der ganz feinen Gesellschaft, so doch von deren Nachahmern getragen wurden. Er nahm zu, schnitt sich die Haare, hatte rosige Wangenund trug zu Frühlingsbeginn feine Anzüge. Mit seinem stolzen, männlichen Auftreten zog er die Blicke auf sich. Und das Beste war: Er musste nur Jiddisch sprechen, denn die Kunden waren alle Juden. Er richtete sich im Hinterzimmer ein, und als er durch das Fenster die Frauen im Haus gegenüber sah, ahnte er, dass bessere Tage kommen würden.
Gelächter, klirrende Gläser, Dekolletés: Artur erkannte schnell, dass dort nicht die Tugend zu Hause war. Voller Begeisterung malte er sich die unanständigsten Dinge aus und fragte sich, was die Frauen wohl dafür verlangten. Nächtelang sog er schwitzend und schwer atmend jede Einzelheit auf, während das Fenster beschlug und er mal für dieses, mal für jenes Mädchen schwärmte und gleichzeitig nach ihren Makeln suchte, nur um nicht gleich wie ein Wilder über sie herfallen zu müssen. Wahre Heldinnen waren das! Grauhaarige, glatzköpfige und runzlige Männer entblößten ihre schlaffe Haut vor diesen armen Mädchen, die so gar nichts Schlampenhaftes an sich hatten. Sie arbeiteten fleißig und fügten sich in ihr Schicksal. Und wenn die Kunden das Feld geräumt hatten, richteten die Mädchen sich mit Parfüm und Puder wieder her.
Tagsüber im Atelier fing Artur an, sich in den Maßen zu irren und sich in die Finger zu stechen. Er besaß keinen Spiegel, vor dem er sich die Augenringe hätte überdecken können, die dunkler waren als das Futter eines Sakkos, das er jetzt ausbessern sollte. Artur stutzte. Irgendwie kam ihm das Muster bekanntvor: grüne und blaue Karos auf dunkelgrauem Untergrund. Aber woher?
»Dr. Kelevski hätte gern größere Taschen«, erklärte der Schneider.
»Aber die Taschen sind doch schon groß …«
Ein kurzes Schnalzen.
»Dr. Kelevski ist Dr.
Weitere Kostenlose Bücher