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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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Dorf war naiv genug, auf diesen Tag zu warten. Wie sollte man Pläne schmieden, wie an die Zukunft denken, in einem Land, in dem die Hühner nach den Leichen ihrer Besitzer pickten? Es war eine Zeit der Pogrome: Unter Zar Nikolaus II. kam es zu brutalen Plünderungen und Massakern, ganze Städte wurden von den Kosaken unter Beschuss genommen. Gott sei Dank würde Golda dieser unvorstellbaren Niedertracht entrinnen, das Schicksal meinte es offenbar gut mit ihr, und wer weiß, vielleicht könnte sie das Dorf in einer anderen Welt weiterführen?
    Eine alte Frau zog Artur am Arm: »Hör zu, mein Junge! Komm ja nicht auf die Idee, sie zu Hause einzuschließen.Golda muss etwas zu tun haben, sie muss arbeiten!«
    Artur lächelte. »Machen Sie sich keine Sorgen, das wird sie!«
    Und da das Schicksal es eilig hatte, stiegen sie gleich in die Kutsche. Golda brachte kein Wort heraus, ihre Augen waren feucht und die Nase rot. Sie verbarg das Gesicht an Arturs Schulter und drückte seine Hand. Er war ihr Mann, so schön und so klug. Sie würde ihn lieben in guten wie in schlechten Zeiten, in Reichtum und in Armut, mit seinen Tugenden und seinen Schwächen. Sie würden Kinder, Enkel und Urenkel haben. Sie würde ihm verzeihen, ihn verstehen und ihn glücklich machen, wie es der Talmud gebietet. Und mit einem Funken Humor wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, stieß den Kutscher an und sagte, als wäre es das Normalste auf der Welt:
    »Nach Buenos Aires, bitte.«
    * * *
    Hamburg
    Seit fünf Tagen schon saß Golda in ihrem Hotelzimmer fest und wusste nicht mehr, womit sie sich beschäftigen sollte. Sie hatte rollenweise Garn verbraucht und ein paar fadenscheinige Gardinen, ein Laken und zwei Kissenbezüge ausgebessert. Den ganzen Tag lief sie wie eine Wahnsinnige im Kreis. Da es kein Bad auf dem Zimmer gab, musste sie sich ineinen Nachttopf entleeren. Nicht mal zu Hause im Stall hatte es so gestunken. Artur kam erst abends, er brachte Essen und beschwerte sich über den Winter, der den Hafen lahmgelegt hatte und die Weiterreise nach Argentinien verzögerte. Am Morgen hastete er aus dem Haus und überließ die Frau ihrer Verzweiflung.
    Gegen Mittag stellte sich Golda an das schneebedeckte Fenster. Der Hafen war kaum zu sehen, die Schiffe und Kräne lagen unter einer weißen Kruste. Es war der kälteste Winter seit Jahren, doch das störte sie nicht. Genauso wenig dachte sie an die lange Reise aus Russland, die sechs Monate in Zügen und Einspännern quer durch Europa. Weder die Wiener Paläste interessierten sie noch die Tiroler Alpen oder die Pracht Berlins. Golda dachte nur an Artur.
    Er verhielt sich merkwürdig, wurde von Mal zu Mal abwesender und aggressiver. Wohin sie auch kamen, immer hatte er Geschäfte zu erledigen und blieb Stunden, manchmal Tage weg. In Südamerika würde alles anders werden, versprach er. Zwischen zwei Versprechen erinnerte Golda sich, dass es ein Nord- und ein Südamerika gab. Was sollte man da über Europa sagen, wo es Westen und Osten gab und Zentren und Halbinseln?
    Golda hätte nie gedacht, dass Länder so groß und so unterschiedlich sein konnten. Sie hatte von einem unendlichen Dorf geträumt, ja – und natürlich war sie offen für Neues, aber das war nicht vergleichbar mit dem, was sie jetzt sah. Sie kam sich töricht vor, alleinim Exil, der Anonymität ausgesetzt. In ihrem alten Dorf roch alles nach Armut, aber Golda war dort zu Hause, sie sah den Menschen in die Augen und spürte den Boden unter den Füßen. Es war ein bescheidener, aber treuer Ort, den sie verlassen hatte, um sich einer Folge von Landschaften, Menschen und unvorhersehbaren Ereignissen auszusetzen. Sie war nur noch irgendwer, nicht mehr die hilfsbereite, unschuldige und bei allen beliebte Golda. Was sie tat, fand keinen Widerhall. Sie konnte sich niemandem verständlich machen, konnte nicht mehr Golda sein – auch nicht für ihren Mann.
    Sie war mit einem Unbekannten verheiratet. Aus den beschworenen guten und schlechten Zeiten war viel zu früh Ernst geworden. In Wien war sie krank gewesen, ihre Arme waren mit roten Punkten übersät, und Artur hatte geschäumt. Zum Glück konnte ein befreundeter Arzt Abhilfe schaffen. An Bekanntschaften mangelte es im Übrigen nicht. Artur grüßte Polizisten, Portiers und diverse dubiose Charaktere beiderlei Geschlechts. Er unterhielt sich in zig Sprachen und verhandelte über Dinge, die Golda mit seinem Restaurant in Buenos Aires in Verbindung zu bringen versuchte. Und wenn sie es

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