Hannahs Briefe
wagte, Fragen zu stellen, kam Artur mit Ausflüchten oder Pralinen, oder er gähnte.
Um drei Uhr nachmittags kratzte Golda das Fenster frei. Draußen sah sie einen Juden vorbeistapfen. Der Sturm blies ihm entgegen und setzte seinen dunklen Anzug und den breitkrempigen Hut dem Schnee aus.Golda war weder gebildet noch religiös, sie konnte nicht mal lesen und schreiben, aber diese Art von Männern kannte sie, sie waren schon häufig bei ihnen im Dorf gewesen. Sie fand sie ein wenig unheimlich, wenn sie die Hände erhoben, ihre Stimme veränderten und dauernd lächelten und Grimassen schnitten. Aber sie waren Freunde. Golda wollte ihn grüßen, ihm Schalom oder irgendetwas zurufen, um so ihre Seele zu wärmen und sich selbst zu spüren.
Aber die Tür war abgeschlossen, und das Fenster klemmte. Golda geriet fast in Panik, als sie Schritte hörte, dann den Schlüssel im Schloss und die Tür aufgehen sah. Artur kam aufgeregt ins Zimmer gestürmt. Er streifte den Mantel ab, warf seine Kleider zu Boden, knöpfte die Hose auf und zeigte sich zum ersten Mal in seiner ganzen Nacktheit. Ohne Vorankündigung packte er Golda, riss ihr die Sachen vom Leib und fiel über ihren zarten, regungslosen Körper her.
Golda schrie nicht, sie stöhnte nicht, nichts. Sie war zu verwirrt, um zu reagieren. Ohne einen Mucks, ohne eine Regung ertrug sie die Schmerzen, zog sich in einen Winkel ihrer Seele zurück und überließ ihr Fleisch dem begierigen Ehemann. Nachdem sie benutzt worden war, hatte sie das unangenehme Gefühl, nur ein Körper zu sein oder gewesen zu sein – und sonst nichts. Es war andersrum. Nicht die Seele erfüllte den Körper, ihren treuen Wirt, mit Leben, sondern umgekehrt. Das Fleisch war es, was zählte. Golda war eine bloße Bewohnerin ihres Gesichts, ihrerBrüste, der Winkel und Rundungen, die Artur tatsächlich begehrte.
Sie stand auf. Es war Abend geworden, Hamburg war stockfinster. Im Fenster sah sie Arturs Spiegelbild ausgestreckt auf dem Bett liegen. Sie bat ihn, ins Bad am Ende des Korridors gehen zu dürfen, sie müsse sich waschen. Artur erlaubte es ihr, er war gutgelaunt, denn am nächsten Tag würde der Hafen geöffnet.
Buenos Aires war nur noch eine Frage von Wochen.
* * *
Als das Schiff in Frankreich haltmachte, forderte Artur Golda auf, ihren Koffer zu packen und in eine Kabine mit zwei Kojen und Klo umzuziehen. Golda verstand nicht, und als sie die Luke ihrer neuen Unterkunft öffnete, sah sie Artur am Anleger stehen und mit zwei Männern in Uniform sprechen. Das Seltsame war: Er zeigte den beiden seinen Ausweis und begrüßte gleichzeitig drei Frauen. Kurz darauf ging die Tür auf, und die drei polterten herein. Artur folgte ihnen.
»Seid ruhig!« Dann stellte er ihnen einen böse guckenden kleinen Mann vor: »Das ist Leib, er wird sich um euch kümmern.«
Die drei kamen genau wie Golda aus jüdischen Dörfern, und zu ihrem Entsetzen stellten sie fest, dass ihnen allen ungefähr dasselbe widerfahren war: Artur hatte sie alle vier geheiratet und ihnen dasselbe Paradies versprochen, doch die koscheren Steaks inseinem Restaurant, so ahnten die Mädchen, waren sie selbst. Golda konnte nicht glauben, was sie da hörte, das alles ergab nicht den geringsten Sinn. Mehr aus Angst denn aus Empörung trommelte sie erst mit den Fäusten auf die Tür ein und versuchte dann, durch die Luke zu entkommen. Langsam sah sie die französische Küste kleiner werden und im Nebel verschwimmen.
Die erste Woche verbrachten sie zusammengepfercht in der Kabine, redeten ohne Pause und teilten sich notgedrungen Klo und Essen, das Leib ihnen brachte, der Artur immer nur »den Chef« nannte. Golda erfuhr, dass besagter Chef erfreulicherweise noch an Bord war und seine Ehefrauen zu »gegebener Zeit« gern in Augenschein nehmen werde. Als sie an einer felsigen Insel voller kleiner weißer Häuschen anlegten, war es so weit. Artur trug einen dunkelgrauen Anzug und einen Spazierstock und sprach mit ruhiger, aber entschlossener Stimme:
»Ihr dürft jetzt raus, aber holt euch keinen Sonnenbrand. Ihr müsst unbedingt weiß bleiben!«
Golda wollte auf ihn einprügeln, ihn beschimpfen. Aber es ging nicht, sie verspürte keinen Hass – insbesondere nicht auf ihn. Sie war sicher, dass sich alles wieder einrenken würde. Es musste eine Erklärung für diese Prüfung geben, einen im Moment noch unergründlichen Sinn. Und als Golda sich weigerte, die Kabine zu verlassen, nahm Artur sie an der Hand.
»Vertrau mir.«
An Deck war alles
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