Hannahs Briefe
verstand. Sie bekam Spritzen, bekleckerte sich mit Brei und starb vor Durst. Manchmal phantasierte sie, dann sprach sie mit ihren Eltern oder ging die Eier im Hühnerstall einsammeln. Zwei hübsche, gutgekleidete und übertrieben geschminkte Frauen kämmten ihr die Haare und erklärten ihr etwas auf Jiddisch, das sie nur mit viel Mühe entschlüsselte. Sara und Zélia (so hießen die beiden) würden sich um sie kümmern, sobald man sie aus dem Krankenhaus entließ. Sie versprachen, ihr gute Freundinnen und immer für sie da zu sein. Aber Golda wollte keine Freundinnen. Sie fragte ständig nur nach ihrem Mann – Artur, Artur, Artur – mit ihrem dünnen Stimmchen, das schließlich ein letztes Mal rief: Artur.
Sie starb allein an einem Januarmorgen. Typhus, hieß es in der Sterbeurkunde. Sara und Zélia bestanden darauf, dass die Krankenhausangestellten Golda wuschen und in ein Tuch wickelten; sie wollten eine anständige jüdische Beerdigung, damit sie in Frieden ruhen konnte. Aber niemand wusch die Leiche, und die beiden Polackinnen mussten sich auch noch verspotten lassen. Der Sarg wurde auf dem Friedhof von Caju zwischen den dort üblichen Heiligen und Kruzifixen begraben. Sara und Zélia übernahmenkurz darauf den Vorsitz einer Kommission, die sich für die Errichtung eines jüdischen Friedhofs einsetzte.
Zehn Jahre später erteilte ihnen die Stadt die Konzession für den Friedhof von Inhaúma. Es war ein feierlicher Nachmittag im Jahr 1916, es wurden Reden gehalten und ein Picknick veranstaltet. Ein paar Frauen sangen und tanzten, die respektlosen unter ihnen vermaßen bereits das Terrain und stießen auf den Engel des Todes an. Als der Trubel vorbei war, setzte Zélia ihren Hut auf und fuhr mit der Straßenbahn nach Caju. Sie wollte einen Stein auf Goldas Grab legen. Dort angekommen, verloren zwischen all den Granitblöcken und Alleen, beschloss sie, bei der Verwaltung zu fragen, wo das Grab lag. Es war ein kleiner stickiger Raum mit alten, lädierten Möbeln. Die Friedhofsangestellte zwang sich zu einem Lächeln, durchwühlte Schubladen mit vergilbten Ordnern und beklagte die Schäden, die der letzte Regen angerichtet hatte. Zélia wartete über eine halbe Stunde, sie trank ein Glas Wasser und benutzte die Toilette. Als irgendwann ihre Krampfadern schmerzten, hatte sie das Gefühl, Golda für immer verloren zu haben. Beschweren tat sie sich nicht.
Sie fuhr bis ans Ufer der Baía de Guanabara, dachte an Gott und warf einen Stein ins Wasser.
* * *
Polen, 1930
Zwei Uhr morgens, im Wirtshaus schien kein Ende in Sicht. Gelächter, Geschwätz und das ewige Hin und Her der Kellner mit ihren schäumenden Tulpen. Artur saß allein im Gedränge und hatte nichts, worauf er anstoßen konnte. Es fehlte ihm weder an Geld noch an Gesundheit, aber es war bitter, in der Stadt, in der alles angefangen hatte, im Exil zu sein, Tausende von Kilometern von seiner Chaiselongue in der Avenida Córdoba entfernt, dem Sitz der Zwi Migdal. Ach, Buenos Aires! Würde Artur jemals wieder seine Cafés, seine Paläste und Boulevards sehen? Würde er jemals wieder die feurigen Tangos Gardels hören?
Ihm schmerzte der Kopf, der Magen, alles. Mit seinen fünfzig Jahren fürchtete Artur sich zum ersten Mal vor der Einsamkeit. Das war ein undankbares Ende, nach mehr als drei Jahrzehnten schwerer Arbeit. Wie viele Mädchen hatte er nicht auf der ganzen Welt untergebracht? Argentinien, Brasilien, USA, Südafrika, Indien, China. Die Glücklichen! Ohne die Zwi Migdal wären sie in ihren Dörfern versauert, wo das Leben viel ungesünder war als in den Bordellen, in denen sie auch noch gut bezahlt wurden. Natürlich waren sie nicht die Einzigen, die davon profitierten. Der Frauenhandel entwickelte sich zu einem ganzen Wirtschaftszweig, an dem viele Menschen gut verdienten. Allein in Argentinien hatte die Organisation Geschäfte und Läden geführt, in denen nicht selten dieselben angesehenen Juden verkehrten, die auf den Boulevardsvon Buenos Aires das Gesicht von Artur abwandten. Wie viele von ihnen suchten nicht in den Armen der Polackinnen, was ihre Frauen als entsetzliche Perversion bezeichneten? Zyniker! Schneider, Anwälte, Makler. Gaben sich edelmütig und fürchteten einen Gott, in dessen Namen sie noch nie die Freuden der jüdischen Unterwelt abgelehnt hatten. Und was hatten sie im Gegenzug zu erwarten? Wer reichte ihnen die Hand, wer erhob seine Stimme für die sündigen Brüder und Schwestern? Nicht mal das Recht, in ihren Synagogen zu
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