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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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heiraten oder auf dem Friedhof von La Tablada begraben zu werden, gestand man ihnen zu!
    Ja, Artur Kelevski hatte einige Seelen auf dem Gewissen. Nicht er selbst hatte sie zerstört, sondern der Zusammenprall zwischen ihrer weltfremden, in osteuropäischen Dörfern ersonnenen Romantik und der harten Realität. Artur war nur ein Vermittler, ein Geschäftsmann wie jeder andere auch. Er hatte den ältesten Beruf der Welt nicht erfunden, und auch seine große, unersättliche Klientel nicht. Die Mädchen bekamen Essen, Kleidung, Medikamente, Kosmetika. Und was taten diese undankbaren Geschöpfe? Kritisierten ihre Wohltäter, stifteten Unruhe, wollten sie verlassen, um »ein neues Leben« zu beginnen. Wie viele von ihnen hatte Artur nicht höchstpersönlich vor dem Gefängnis gerettet, hatte ihnen Gerichtsverhandlungen und Anfeindungen erspart? Wie viele hatte er in ferne Bordelle geschickt, nachdem man sie des Verbrechens und des Aufruhrs beschuldigt hatte? Und wenn sie krank wurden, wer brachte sie in einanständiges Krankenhaus, Sanatorium oder Hospiz? Artur Kelevski! Derselbe, der sich auf den Versammlungen der Zwi Migdal dafür einsetzte, dass ihre Kinder eine Ausbildung und ihre Männer Arbeit bekamen. Sogar Hochzeiten, Totenwachen und Bar-Mizwas fanden in der Avenida Córdoba statt. Ganz zu schweigen von den Frauen, die mit Sack und Pack dort auftauchten, ohne jede Perspektive, und in der Prostitution suchten, was die moralische Welt ihnen verwehrte. Unterdrückung oder Berufung? Unterdrückt wurden die klassischen Ehefrauen, hässliche Gebärmaschinen, die unglücklich zu Hause saßen. Sie sollten die Huren beneiden, von denen sie sich in Wirklichkeit gar nicht so sehr unterschieden. Sie wurden auf andere Weise entlohnt – nur weniger deutlich und akzeptabel. Sie verurteilten ihre Geschlechtsgenossinnen, als wären ihre Genitalien Heiligtümer und keine Kasinos! Die Polackinnen dagegen waren sowohl aufgeklärt als auch wohlhabend. Sie verdienten ihr eigenes Geld – sie nähten und kochten. Und sie hatten ihre Ruhe, solange sie die Zwi Migdal nicht hintergingen. Auf eigene Faust zu arbeiten oder die Abgaben an die Organisation zu unterschlagen kam selbstverständlich nicht in Frage.
    Aber der Mensch tut nun mal gern, was er nicht soll, daher die Schläge, das Einsperren und andere Kleinigkeiten. Alles Strafen, die sie sich selbst auferlegten, mit Hilfe der Männer der Zwi Migdal, häufig Polizisten. Viele Politiker, Richter, Diplomaten und Beamte zeigten sich ähnlich kooperativ. Natürlichwurde hin und wieder jemand fahnenflüchtig, aber der eigentliche Ärger kam doch von außerhalb.
    In den letzten Jahrzehnten, vor allem in den zwanziger Jahren, hatte es sich ein Haufen Müßiggänger zur Aufgabe gemacht, der sogenannten weißen Sklaverei den Kampf anzusagen. In Häfen und Bahnhöfen versammelten sich aufgebrachte Bürgerinnen und verteilten Panik schürende Flugblätter. Einige gingen selbst auf die Schiffe, um die Mädchen zu warnen und vielleicht sogar zu »adoptieren« – um nicht zu sagen: entführen. Am besten, sie schnitten den Männern die Eier ab! Verfluchte Aktivistinnen!
    Natürlich gab es in jeder Branche Verluste und Risiken – niemand wusste das besser als Artur Kelevski. Er hatte an die tausend Bordelle, zwei Unternehmen und achtzehn Geschäfte kontrolliert und unendlich viel Geld eingenommen. Und da die Branche regelmäßig nach neuer Ware verlangte, durchkämmte eine Legion von ehrgeizigen jungen Männern die Felder von Polen, Russland, Ungarn und Umgebung. Ihre Aufgabe war es, die knackigsten Äpfel zu pflücken.
    Tatsächlich war der »Import von Frischfleisch« in den letzten sieben Jahrzehnten nie ein sicheres Geschäft gewesen. Doch selbst die schlimmsten Pessimisten und Neider hätten nicht die Katastrophe voraussehen können, die schließlich im Jahr 1929 ausbrach, als eine alte, aufsässige Hure in Buenos Aires den Polizeikommissar Julio Alsogaray aufsuchte und schwere Anschuldigungen gegen die Zwi Migdalerhob. Sie berichtete von Züchtigungen, Beschlagnahmungen und Drohungen. Von Geldern, Bestechung und Scheingeschäften.
    Dieses Miststück! Sie hatte alles kaputtgemacht. Das Ergebnis: Haftbefehle und geschlossene Bordelle. Das war reiner Antisemitismus! Oder hätten die Argentinier etwa dasselbe mit französischen, italienischen oder türkischen Zuhältern gemacht? Eine verdammte Ungerechtigkeit! Damit hatten sie die Polackinnen in die Armut getrieben und ihre Kunden in den

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