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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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ein einziges Blau. Die Welt bestand nur aus Wasser, Kinder spielten Ringelreihen neben einem alten, gebückten Mann. Für einen kurzen Moment hatten weder Raum noch Zeit eine Bedeutung, und Golda empfand einen tiefen Frieden. Es heißt, auf dem Gipfel der Hoffnungslosigkeit finde man Trost, weil dort, wo es nichts mehr zu hoffen gibt, alles genug ist. Der Weizen verspricht dort kein Brot, die Traube verspricht keinen Wein, und die Morgenröte verheißt keine Sonne. Es gibt weder Verlangen noch Zukunft. Das Leben kennt kein Morgen und kein Gestern. Das war der Augenblick, in dem Golda die Schönheit des Meeres, des Himmels, Gottes erkannte. Sie spürte den Wind im Gesicht, warf die Haare zurück, breitete die Arme aus und holte tief Luft. Es gab nur den einen Horizont, der sich vor ihr auftat, hier über dem Atlantik, er hielt keinerlei Versprechen für sie bereit und war dennoch – oder gerade deswegen? – wunderschön.
    Als sie wieder zu sich kam, sah sie die drei Frauen lachend zusammenstehen. Die Dämmerung brach herein, Artur war bereits gegangen, und Leib machte sich daran, die Frauen zurück in ihren Käfig zu treiben.
    * * *
    Als sie in Rio de Janeiro vor Anker gingen, mussten die Passagiere, die nach Buenos Aires weiterreisten, an Deck bleiben, damit die Gesundheitsbehörde die Kabinen überprüfen konnte. Die meisten waren vonBord gegangen, unter anderem Arturs »Ehefrauen« und der unerträgliche Leib. Golda genoss es, wieder die Einzige zu sein, als wäre seit der Abfahrt aus Hamburg nichts vorgefallen. Jetzt kam wieder alles ins Lot. Bezaubert von der Landschaft und mit einem Haufen Fragen über Argentinien im Kopf ging sie zu ihrem Mann. Artur rauchte einen Zigarillo und war nicht in der Stimmung, zu reden.
    »Kannst du mich hören?«, fragte Golda.
    »Jetzt nicht, ich rauche, hau ab.«
    »Ich bin deine Frau, du musst mir zuhören!«, platzte es aus ihr heraus.
    Er wurde wütend.
    »Wessen Frau? Meine nicht!«
    »Was soll das heißen? Wir sind verheiratet!«
    »Huren heiraten nicht! Das war keine echte Hochzeit, verstanden? Und jetzt hau ab, ich rauche und will meine Ruhe!«
    Golda zuckte zusammen, ihre Augen waren rot. Hatte sie den Verstand verloren? Sie, unverheiratet und entjungfert? Unmöglich. Sie hatten Ringe getauscht und das Glas zertreten! Gwalt , so etwas Absurdes hatte sie noch nie gehört! Sie packte Artur, aber der beschimpfte und schlug sie. Golda fiel hin und blieb liegen, bis ihr eine Dame zu Hilfe eilte und empört den Kapitän rufen wollte.
    »Das ist nicht nötig.« Golda bedankte sich. Sie stand auf und ordnete mit zitternden Fingern ihren Kragen. Es war das marineblaue Kleid, das ihre Großtante ihr für den ersten Tag in Amerika geschenkt hatte. DasKleid war zerrissen, die Elfenbeinknöpfe lagen auf dem Boden verstreut. Sie wischte sich den Rotz ab, den Speichel, die Tränen und zog den Ring vom Finger. Ihr Haar war zerzaust, sie war verletzt und entstellt. Mit verschmiertem Lippenstift und düsterem Blick taumelte sie in Richtung Reling, kletterte hinüber, breitete die Arme aus und sprang in die Baía de Guanabara. Sie fiel wie ein Stein. Lieber wollte sie sterben als sich in ihr Schicksal fügen. Sie tauchte in das warme, schlammige Wasser ein und kam hustend wieder hoch. Schaulustige drängten sich an Deck, Artur schrie entsetzt auf. Er war es, vor dem Golda floh. Dieser jüdische Kosake, diese teuflische Bestie! Sie fing an, zu strampeln und mit den Armen zu fuchteln. Bei jeder Bewegung schluckte sie literweise Wasser, sie verlor immer mehr Kraft und blutete aus der Nase. Aber sie schwamm, sie schwamm unermüdlich in Richtung Heimat, zurück in ihr Dorf, wo sie geliebt wurde, wo sie ein Mensch war, wo sie Golda war!
    Bis sie müde wurde, keine Luft mehr bekam und ihr Körper rebellierte. Sie war schon halb ohnmächtig, als schwarze Hände sie packten und in ein Holzboot zogen. Die Männer brüllten und ruderten. Golda lag in einer trüben Lache, zwischen sterbenden Fischen. Sie sah ihre Glupschaugen, die zappelnden Schwänze. Im Dorf hatte es so gut wie nie Fisch gegeben, und wenn, dann getrocknet und geräuchert, hart wie Stahl, zu Pessach und zu Neujahr. Golda hatte noch nie einen lebenden Fisch gesehen. Sie fing gern Kaulquappenim einzigen Bach im Dorf, aber nur, um ihnen Geheimnisse zu erzählen und ihnen ihr Herz auszuschütten.
    Tage später wachte sie in einem Krankenhausbett auf, mit Schweiß und Exkrementen bedeckt, von Krankenschwestern umsorgt, die sie nicht

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