Hannahs Briefe
gekommen. Er sollte die Liebe seiner Eltern besiegeln und ihnen vielleicht eines Tages Enkel schenken und im Alter beistehen. Während der Schwangerschaft vertrieb Reisele Goldman sich die Übelkeit, indem sie sich ihr Kind in den Sachen vorstellte, die sie ihm strickte. Leider liefen die Dinge anders als geplant.
Das rosige Baby musste von fremden Brüsten gestillt werden und besiegelte schon am Tag seiner Beschneidung keine Liebe mehr. Der Plan war gescheitert. In den folgenden Jahren wuchs Max weitgehend unbemerkt heran. Nicht, dass Leon seinen Sohn nicht gemocht hätte – er kümmerte sich um seine Ausbildung, um seine Gesundheit und schenkte ihm sogar Spielzeug –, aber ihm fehlte die menschliche Wärme.
Als er zehn war, saß Max bei seinem Großvater auf dem Schoß und klagte: »Warum mag mich mein Vater nicht?«
Shlomo tat überrascht und versicherte ihm, dass Leon ihn liebe, aber ja doch, natürlich liebte er ihn!Nur dass wahre Liebe eben nicht perfekt war. Und er erzählte ihm eine Geschichte:
»Es war einmal ein Stachelschwein, das hatte keine Freunde. Es war wirklich liebenswert, aber niemand wagte es, ihm zu nahe zu kommen, weil es jeden gleich stach. Kaum jemand verstand, dass Stachelschweine auf diese Weise lieben. Sie stechen.«
An diese Geschichte erinnerte sich Max achtzehn Jahre später auf dem Friedhof in Kattowitz, als er seinen Vater neben Reisele Goldman beerdigte. Zu diesem Zeitpunkt wusste er bereits, dass kein Mensch von einem anderen erwarten konnte, dass er sich für ihn änderte oder womöglich ganz aufgab. Die Liebe schloss den ganzen Menschen ein, samt seinen Eigenheiten, seinen Abgründen und Schwächen. Dort auf dem Friedhof verstand Max plötzlich, wie sein Vater ihn geliebt hatte, während er gleichzeitig verzweifelt versucht hatte, sein Leben als Witwer zu meistern. In diesem Moment verzieh er ihm und auch sich selbst, und es tat ihm leid, dass Leon es nicht geschafft (oder nicht mal versucht) hatte, sich ein neues Leben aufzubauen, seinen Sohn neu kennenzulernen und zu verstehen, dass Unvorhergesehenes, Irrtümer und Tragödien auch etwas Gutes mit sich bringen können.
Christoph Kolumbus zum Beispiel hatte Asien gesucht und dabei Amerika entdeckt; der Erste Weltkrieg hatte Polen die langersehnte Unabhängigkeit beschert; ein englischer Wissenschaftler hatte dank der Unordnung in seinem Labor ein Medikament erfunden; und was die jüdische Geschichte betraf, dieSynagogen waren im Exil entstanden und nicht im Gelobten Land.
Jetzt, 1938, war es höchste Zeit, dass Max seinem Vater und negativen Vorbild eine posthume Lektion erteilte. Er würde Hannah weiter verehren, trotz aller Widrigkeiten. Er hatte sie lieben und hassen und wieder lieben gelernt, sie neu erfunden und wiederentdeckt. Er würde sie in allen Varianten anbeten: gleichzeitig und hintereinander, die heilige und die profane. War es Sturheit oder Mut? Wie auch immer, Flexibilität in der Liebe war genau das, was den meisten Paaren fehlte, weshalb sie unangenehme Veränderungen wie Krankheit, Armut und andere Schicksalsschläge nicht ertrugen. Max hingegen würde dieses Gefühl umschiffen und ohne jede Karte oder irgendwelche Versprechungen allen Stürmen trotzen, die ihn im Übrigen nur bestärkten.
Der Schuhmacher vergaß nur, dass im Leben nicht jeder Kolumbus Amerika entdeckt. Mancher wird stattdessen von ihm entdeckt. Siehe Ferdinand Magellan und seine Männer, die immer weitersegelten, bis sie wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt waren; oder auch die Kriege, die nichts anderes taten, als den Frieden zu zerstören.
An einem Tag im Mai sollte Max lernen, dass, wenn die Vergangenheit ein unperfektes Verbrechen war, die Zukunft ihr unerbittlicher Ankläger war.
Mendel F. war wie immer unterwegs auf der Praça Onze und faselte wirres Zeug, unter anderem voneinem orthodoxen Juden, der sich mit den Orixás eingelassen habe, und mit einer verheirateten Frau, die so groß war, dass eine Ehe allein ihr zu klein war. Am Nachmittag erschien er bei Max in der Werkstatt und wollte Geld, Lebensmittel und Schuhe.
»Raus hier«, knurrte der Schuhmacher, während er sich um zwei Kundinnen kümmerte.
Mendel ließ sich nicht abwimmeln: Nur ein bisschen Kleingeld, und was war das da vorn?
»Hau ab! Du bist meschugge! «
Mendel F. sah ihn verblüfft an.
»Meschugge?«
»Verschwinde! Ich muss arbeiten!«
Er rührte sich nicht.
»Hab ich richtig gehört? Du nennst mich meschugge ?«
»Ganz genau, meschugge ! Und jetzt
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