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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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verschwinde!«
    Mendel F. rieb sich die Fäuste, er war kurz davor, auf den Schuhmacher loszugehen. Den beiden Damen zuliebe griff er dann doch auf den stärksten Muskel des Menschen zurück: die Zunge.
    »Wenn hier einer meschugge ist, dann du, Max Kutner. Treibst dich mit einer Polackin rum!« Vor den entsetzten Kundinnen fuhr er fort: »Schäm dich, du Widerling! Ein Skandal ist das!«
    Dann lief er laut brüllend durch die Rua Visconde de Itaúna. Max ließ sich auf einen Stuhl fallen, sein Mund war trocken, er starrte ins Nichts. Er hielt die Hände vors Gesicht: Oj, oj! Das hatte ihm gerade noch gefehlt!
    »Eine Polackin?«, fragte eine der Damen empört. »Welch eine Schande, Senhor Kutner!«
    Max machte den Laden zu, schloss sich in sein Zimmer ein und schaltete das Licht aus. Er hasste die Menschen und ihre repressive Moral. Was waren Sitten und Anstand anderes als Steinschleudern gegen die Kanonen der Absurdität? Und was waren die geraden weißen Wände seines Zimmers anderes als eine von der Vernunft geformte Höhle, als ließe sich das Leben geometrisch erfassen und wie ein Bettlaken waschen und zusammenfalten?
    Sicher, Max war unvorsichtig gewesen, sich mit Hannah überall so ungeniert zu zeigen. Hatte er die Gefahr denn nicht erkannt? Wo hatte man das schon gesehen, mit einer Hure über die kleine, wachsame Praça Onze zu spazieren! Warum all jene brüskieren, die viel Geld dafür bezahlten, zumindest den Anschein von Normalität zu wahren! Sag schon, Max! Und jetzt, was willst du jetzt tun, wo dich jeder auf der Praça Onze verachtet? Du brauchst doch den Glauben und die Eigenarten deiner Landsleute; du brauchst die Kommunisten, um selbst keiner zu sein; die Zionisten, um sie kritisieren zu können; und die feinen Damen, um über sie herzuziehen. Deine angebliche Autonomie ist völliger Unsinn, du musst dich von jedem Einzelnen von ihnen freimachen. Baal Schem Tov hat gesagt, jeder Jude sei ein Buchstabe, jede Familie ein Wort, jede Gemeinde ein Satz. Schade nur, dass die Buchstaben in dieser Geschichte nicht immerderselben Grammatik gehorchten. Manchmal hatte Max den Eindruck, dass die Juden nicht das Volk des Buches, sondern vielmehr der Bücher waren, einer umfangreichen, zusammengewürfelten Bibliothek, in der in einem Regal steht, was im anderen geleugnet wird. Er wollte von Baal Schem Tov wissen, ob jeder Mensch seinen Buchstaben nur in ein Wort, einen Satz, ein Buch schreiben durfte. Konnte es nicht sein, dass die kleinen Buchstaben heimlich Ausflüge in fremde Kapitel unternahmen und sich in Fußnoten, Glossars und Klappentexte schlichen? Warum bestanden Geschichten aus Buchstaben und nicht andersrum? Die Geschichten der Buchstaben bestanden immerhin auch aus Buchstaben.
    Draußen klopfte es. Wer konnte das sein? Wahrscheinlich ein paar aufgebrachte Frauen, die ihm ihre Gebotstafeln vor die Nase halten wollten! Max holte tief Luft und ging nach vorn, nicht ohne sich vorher das Gesicht abzuwischen und die Haare zu kämmen. Als er die Tür einen Spalt öffnete, stand Adam S., der Heiratsvermittler, vor ihm.
    »Ich komme in friedlicher Absicht!« Er trat ein. »Ich weiß, was Mendel F. getan hat, alle wissen es, aber ich verurteile dich nicht. Im Gegenteil, ich beglückwünsche dich. Prostituierte sind überaus praktisch. Stell dir vor, wir müssten alles heiraten, was irgendwie nützlich ist. Kleidungsstücke, Schuhe, Möbel! Oj, wie schrecklich! Abgesehen davon würden wir ständig alles ausbessern wollen. Hat nicht Gott dem Propheten Hosea auferlegt, Gomer, die schönste HureIsraels zu heiraten und Kinder mit ihr zu zeugen? Hat Gott ihm nicht auferlegt, ihr zu verzeihen, dass sie von zu Hause weggelaufen ist und sich anderen Männern hingegeben hat? Wenn selbst Gott die Sündigen liebt und ihnen verzeiht, warum können wir es dann nicht? Nur zu, mein Lieber, sei glücklich und versuche nicht, das Rätsel des Fleisches zu verstehen. Ich selbst habe mich auch schon für die eine oder andere pummelige Dame begeistert.«
    »Pummelig? Hannah ist nicht pummelig.«
    Adam S. seufzte leise: »Ach, die Liebenden! Sehen Gold in jedem Kiesel. Habt ihr nicht neulich in der Bar Luiz zu Mittag gegessen?«
    »Fany!«, rief der Schuhmacher.
    Also hatte Mendel F. Fany gemeint! Max prustete los. Dieses elende Flittchen! Wie ein gestrandeter Wal hing sie von Montag bis Freitag vor seinem Ladentisch und tratschte, was das Zeug hielt. Zum Teufel scheren konnte sie sich mit ihren Mätzchen, ihrem vertraulichen

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