Hannahs Briefe
an. »Ich rede nicht mit Kommunisten! Wenn Sie die Welt verbessern wollen, lernen Sie erst mal, ihre Schuhe zuzubinden!« Und dann war ihm das Gleichnis von Rabbi Sussja eingefallen, der als junger Mann ebenfalls die Welt verändern wollte, bis er merkte, wie groß und kompliziert sie war, und beschloss, sich erst mal auf sein Land zu beschränken. Aber auch das Land war groß und kompliziert, ebenso seine Stadt, mit der er es dann versuchte. Sein nächstes Ziel war die Familie gewesen, und auf dem Totenbett gestand er schließlich einem Freund: »Inzwischen habe ich eingesehen, dass ich mich auf mich selbst konzentrieren sollte.«
Hannah beschloss, den Schuhmacher nicht anzusprechen, doch das Gleichnis vergaß sie nicht. Wochen später bat Avelar sie, Übersetzer aus dem Jiddischen zu rekrutieren, woraufhin sie Max Kutner empfahl. So hatte alles angefangen. Und jetzt, im November1938, übersetzte er eine Farce nach der anderen aus Hannahs eigener Feder.
In ihrem letzten Streich hatte sie Guita und Jayme angeboten, bei ihr zu wohnen, wenn sie im Januar 1939 nach Brasilien kommen wollten. Er hatte auf seinem Bleistift herumgekaut und sich gefragt, wer Josés Rolle übernehmen würde. Der Kakadu? Und überhaupt, wollte Hannah ihre Schwester und ihren Schwager etwa im Topas-Haus 310 unterbringen, einem Puff? Doch was den Schuhmacher am meisten beeindruckte, waren nicht Hannahs Lügen, sondern ihre Wahrheiten.
Er konnte kaum glauben, dass Fany und zwei Kolleginnen genau wie er, und in Anwesenheit desselben Polizisten Onofre, Briefe übersetzten. Das also war die illustre Truppe der jüdischen Briefzensur, Max und drei Huren, zusammengestellt und unter der Leitung von Oberhure Hannah Kutner, die die Übersetzungen kontrollierte. Was bedeutete, dass Hannah ihre eigenen Briefe auf Portugiesisch las!
»Hau ab, verschwinde!«, hatte Max Fany auf der Rua Visconde de Itaúna angeschrien.
»Ich kann nichts dafür, Senhor Kutner! Tun Sie mir das nicht an!«
Erst als Max sie mit einer Schere bedrohte, flüchtete sie in Tränen aufgelöst. Vier Mal kam sie zurück, vier Mal warf er sie wieder hinaus. Danach spähte sie wie eine Irre hinter irgendwelchen Ecken hervor, und Max tat so, als bemerkte er sie nicht. Eines stürmischenTages blieb sie von Kopf bis Fuß durchnässt wie eine Statue auf der anderen Straßenseite stehen. Ihr offenkundiger Wahnsinn veranlasste schließlich jemanden, den Krankenwagen zu rufen. Sie ließ sich widerstandslos einsammeln und kehrte nie mehr in die Rua Visconde de Itaúna zurück.
Hannah blieb ebenfalls verschwunden. Zum Glück! Sollte sie doch andere täuschen gehen, Max wusste ja jetzt, dass sie eine gerissene Geheimagentin war, die sich mit ihren Opfern in Hotels, Villen, Schiffen und Kasernen in den Laken wälzte. Sie verkörperte alle möglichen Frauentypen, sprach sechs Sprachen, je nach Gelegenheit mit oder ohne Akzent, und angelte sich, wen immer sie wollte. Ob rot, blond oder braun, Hannah besaß die Gabe, schon am nächsten Tag ein vollkommen anderer Mensch zu sein. Hannah war alles und niemand zugleich.
Max war nicht allein auf seinem Leidensweg. Rio wurde von einer Welle der Desillusionierung heimgesucht. In den Todesanzeigen des Correio da Manhã wurden haufenweise junge Frauen beklagt, durch deren Kehle Arsen geflossen war und deren Blumensträuße von langersehnten Hochzeiten auf die Grabsteine der Friedhöfe von São João Batista und Caju wanderten. Max hingegen betrachtete den Körper weiterhin als geeigneten Ort für seine Seele. Er nahm seine Spaziergänge am Wasser wieder auf und vergnügte sich davor oder danach mit den jungen Damen in Glória, die so freundlich waren, ihn weder in sichverliebt zu machen noch in irgendwelche abenteuerlichen Intrigen zu verwickeln.
Eines Tages lernte er Belinha kennen, 23 Jahre alt, glattes schwarzes Haar, solide Familie, geboren in Russland, aufgewachsen in Penha. Schon bei ihrem ersten Treffen bemerkte sie:
»Sie sind sehr, sehr …« Belinha suchte nach dem richtigen Wort. »Elegant. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«
Max reagierte überrascht: »Ich muss zugeben, nein.«
»Ihr Benehmen, Ihre ganze Art. Keine Frage. Sie sind sehr elegant.«
Max wurde verlegen, aber hatte sie nicht recht? In den nächsten Wochen aßen sie zusammen Zuckerwatte, gingen in der Quinta da Boa Vista rudern und stiegen die Treppe zur Igreja da Penha hinauf. Belinha war stets voll des Lobes.
»Wie elegant Sie sind.« Oder: »Vielen Dank, sehr
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