Hannahs Briefe
Radioansprache des Präsidenten von ihren Müttern hereingerufen wurden. Dann legte er eine Schallplatte von Haydn oder Mozart auf und aß dazu eine leichte Mahlzeit. Kurz nach zehn ging er zu Bett, las noch etwas und ließ sich von den streunenden Katzen in den Schlaf lullen.
Max’ zweistöckiges neues Zuhause klebte wie ein siamesischer Zwilling an den Nachbarhäusern. Es war ein Schnäppchen gewesen, der Vorbesitzer hatte im Sterben gelegen, und seine Kinder wollten das Geschäft möglichst schnell über die Bühne bringen und hatten unter anderem die Werkstatt an der Praça Onze in Zahlung genommen. Unglaublich! Den Rest würde Max in monatlichen Raten abstottern, sein Bürge war niemand Geringerer als Hauptmann Avelar. Neben dem Sessel stand ein Regal aus Jacaranda, passend zu dem runden Tisch, den er übernommen hatte. Max hatte vier Korbstühle gekauft und eine Obstschale aus portugiesischem Porzellan, die stets mit Äpfeln, Orangen und Bananen gefüllt war. In der Küche standen Salz und Zucker, um die ihn regelmäßig Nachbarn baten, die sich später mit einem Stück Kuchen oderPudding bedankten. Um das zweifarbige Parkett und den Perserteppich zu schonen, trug Max Pantoffeln. Endlich hatte er ein anständiges Zuhause.
Im Erdgeschoss lag die Werkstatt, sie war jetzt größer und aufgeräumter. Alles hatte seinen Platz und jeder Platz seine Bestimmung. Die Nähmaschine stand in der Mitte auf einem Tisch mit kleinen Schubfächern voller Töpfchen, Nägel und Spulen. Aber nicht alles war anders. Die Füße der Bewohner von Flamengo wiesen dieselben Frostbeulen und Schwielen auf wie an der Praça Onze. Bis auf den einen oder anderen sorgfältig gekleideten Amtsträger oder eine elegante Dame trug die Kundschaft schlichtes Schuhwerk. Die Juden in der Gegend waren ganz offensichtlich vermögender als die im »jüdischen Ghetto«, dem er vor vier Monaten den Rücken zugewandt hatte. Sein Vorwand, das Viertel zu verlassen, waren die Gerüchte, die Regierung würde alles niederreißen, um die versprochene Avenida zwischen dem Marinearsenal und der Cidade Nova bauen zu können. Warum so lange warten? Max brauchte einen Tapetenwechsel, er wollte das alles hinter sich lassen. Statt einfach die nächste Seite aufzuschlagen, war es Zeit, das Buch zuzuklappen. Lebe wohl, Vergangenheit, lebe wohl, Hannah!
Sie hatten sich seit einem halben Jahr nicht gesprochen. Anfangs konnte Max nicht schlafen und war tagsüber wie gerädert. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, sein Mund war trocken, er nahm vier Kilo ab und rasierte sich nicht mehr. Allmählich, fast unbemerkt, fügte er sich in sein Schicksal, bis schließlichder Appetit wiederkam und in einer Zeitungsanzeige Flamengo winkte. Es war seltsam, so fern von der alten Nachbarschaft, von den Eiferern und anderen eigenwilligen Gestalten zu leben. All der Klatsch, die Propaganda, die Witze und Beschimpfungen, die er zu hören bekommen hatte, existierten nicht mehr. Die Vergangenheit war wie fortgewischt.
Richtig, Max hatte Hannah aufgegeben. Genau genommen hatte Hannah sich selbst aufgegeben. Es hatte keinen Sinn, ein goldenes Kalb anzubeten, das aus so vielen Lügen bestand. Max würde woanders Kraft finden, er wollte sein Verlangen nicht länger in trüben Gewässern ankern lassen, sondern einen sicheren Hafen ansteuern. Und das Beste war: Er hatte Hannah bewusst verloren. Auf keinen Fall würde er in tiefen Depressionen versinken. Er wollte vergessen, was vergessen werden musste, und lernen, was gelernt werden musste. Jetzt musste er nur noch das eine vom anderen unterscheiden.
Als Fany ihm an jenem Nachmittag damals »die ganze Wahrheit« erzählte, hätte er sie am liebsten geohrfeigt. Warum? Das wusste er selbst nicht. Und wollte es auch gar nicht wissen, er wusste sowieso schon viel zu viel. Je mehr er wusste, desto weniger verstand er. Aus Konsequenzen waren Ursachen geworden, und was für ihn der Anfang gewesen war, war in Wirklichkeit das Ende. Wer übersetzte hier wen? Wer überwachte wen? Es war folgendermaßen:Vor zwei Jahren hatte Hannah Hauptmann Avelar erzählt, wie sie Witwe geworden war.
»Der Wagen ging unter, und die Leiche verschwand. Ich frage mich noch heute, ob Max vielleicht am Leben ist.«
»Max?«
»Max Kutner.«
Der Hauptmann dachte kurz nach.
»Max Kutner ist mein Schuhmacher.«
Neugierig lief Hannah in die Werkstatt, wo sie Zeugin eines Wutanfalls wurde.
»Raus hier!«, brüllte Max gerade einen jungen Mann in Overall und Mütze
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