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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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nur verlorene Seelen. Und genau diesen Eindruck machte Hannah auf ihn. Nein, Max, du bist kein Abstinenzler, der in Versuchunggerät, sein Laster wieder aufzunehmen. Ganz bestimmt nicht!
    Als sie an der Praça Paris vorbeifuhren, zündete Hannah sich eine Zigarette an. Vielleicht war es nur ein kurzes Aufbäumen, das letzte Zucken einer alten Sehnsucht, das der Schuhmacher überspielte, indem er unauffällig die Beine übereinanderschlug. Um sich abzulenken, stellte er Rechnungen an und dachte sich Fragen aus. Wie viele Palmen säumten die Rua Paissandu? Welche Rolle spielte Procópio Ferreira in dem Stück im Teatro Regina? Er dachte an Hitler, an Stalin, an die Invasion in Österreich, an Spanien in Flammen. Alles, um sein Kartenhaus vor diesem unvorhergesehenen Orkan zu schützen.
    Doch ein weiterer Blick genügte, damit seine Hände anfingen zu schwitzen und Max am liebsten aus dem Taxi, ja aus der Welt gesprungen wäre, um dort draußen nach Begriffen wie Lügnerin oder Possenspielerin zu suchen, für diese Frau, die ihm von nahem betrachtet zu groß und komplex erschien, um sie mit Worten zu beschreiben. Oh, Herr! Warum ist aus der Ferne alles so gewiss und aus der Nähe verräterisch und falsch? Und jetzt, Max, hattest du nicht einen Schlussstrich unter alles gezogen?
    Im Wartezimmer saßen sieben Polackinnen mit Süßigkeiten und Geschenken, während Fany in ihrem Krankenzimmer von Hannah und dem Pflegepersonal »vorbereitet« wurde. Max fühlte sich offensichtlich unwohl.
    »Lange nicht gesehen, Senhor Kutner.«
    Sie flüsterten sich Nichtigkeiten und tragische Geschichten zu, bewunderten die Zähne von irgendwem, spotteten über die Furunkel eines anderen, plauderten über Haarfärbemittel und denunzierte Abtreibungen. Für sie war die Welt ein großer Witz, ein endloser Tratsch. Vom Leben erhofften sie sich nichts anderes als einen Lippenstift, ein hübsches Korsett und ein Fläschchen Parfüm, die ihnen den nächsten Lippenstift, das nächste Korsett oder Parfüm einbrachten. Also gingen sie in die Synagoge am Platz der Republik und beteten dafür in Zeremonien, die von ihresgleichen – Zuhältern, Gigolos und ähnlichem Gesocks – abgehalten wurden. Fast hysterisch baten sie Gott um Vergebung, so wie auch sie Vergebung übten und so Schuld und Schuldigkeit ausglichen. Im Anschluss trank man auf kathartischen Feiern Schnaps, dazu gab es Tanz und Gesang. Da waren sie schon keine Menschen mehr, sondern lächelnde Stigmen, Ikonen der Perversion, Quelle der Faszination und des Schreckens, der öffentlichen Antipathie und privaten Sympathie.
    »Geht es Ihnen nicht gut, Senhor Kutner?«, erkundigte sich eine von ihnen.
    »Doch, doch.«
    »Trinken Sie einen Schluck Wasser.« Man brachte ihm ein Glas.
    Es gab nichts Schlimmeres, als die Hilfe des Feindes annehmen zu müssen. Max war nicht unbedingt durstig, vielmehr fühlte er sich von ihrer exzentrischenAufmerksamkeit bedrängt. Haben Sie Fieber? Möchten Sie ein Aspirin? Vielleicht einen feuchten Wickel? Die Frauen breiteten den Inhalt ihrer Handund Brieftaschen vor ihm aus und überhäuften Max mit ihrer Fürsorge und Liebe. Bis irgendwann endlich Hannah kam.
    »Fany erwartet dich, Max. Geh du zuerst.« Und dann im Flur: »Wundere dich nicht, sie hatte allen Grund, verrückt zu werden.«
    Allen Grund, verrückt zu werden?, dachte der Schuhmacher. Das klang irgendwie paradox. Als sie ins Zimmer traten, erkannte er sie nicht gleich unter dem hellgrünen Betttuch. Sie war vollkommen abgemagert, die Haare dünn und angegraut, der Blick matt. Hannah hielt ihre Hand.
    »Max Kutner ist hier, Liebes.«
    »Der Schuhmacher?«, hörte er sie mit schwacher Stimme sagen.
    »Ich bin’s.«
    Fany sah Max ehrerbietig an. Sie sagte kein Wort, bis ihr die Tränen in die Augen traten.
    »Geht es Ihnen gut?«
    »Ja, und Ihnen?«
    »Auch.«
    Max war bewegt. Zum ersten Mal war Fany keine traumtänzerische Hexe, die ihm in ihrer beklemmenden Zutraulichkeit dauernd zu verstehen gab, er solle sich doch mit ihr begnügen. Fany war ganz einfach Fany – und das komischerweise in einem Zustand, in dem sie es eigentlich gar nicht sein konnte. Die Lippenhingen schlaff und ausdruckslos im Gesicht und entblößten ihre gelben Zähne.
    »Ich habe gehört, Sie sind umgezogen.«
    »Stimmt, nach Flamengo.«
    »Oh, wie schön.«
    Sie schien erfreut, wenn auch etwas skeptisch, als der Schuhmacher versprach, sie zu sich nach Hause einzuladen. Zum Tee, sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen

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