Hannahs Briefe
war weder Groll noch Wehmut. Max küsste sie und sagte etwas wie »So ist das Leben«. Vielleicht konnten sie Freunde sein, warum nicht? Aber Mariana hatte ihm bereits den Rücken zugewandt.
Auf dem Nachhauseweg betrachtete Max die Palmen in der Rua Paissandu. Der Tag ging dem Ende entgegen,und die Sonne warf ihr Licht auf die Spitzen der Bäume. Ach, wie sehnte er sich nach dem 19. Jahrhundert, als die Menschen einander genügten, von der Wiege bis ins Grab. Und jetzt, was war eine Begegnung anderes als das Vorspiel zur Trennung?
In der Werkstatt hatte ein Polizist mit Plattfüßen Stiefel abgegeben, bei denen die Sohlen abgelaufen waren. Max öffnete den Schrank und holte den Leim heraus. Zum Glück hatte er am Tag zuvor Gummi gekauft. Er suchte in der Schublade nach einem Spachtel, als ein Windstoß Türen und Fenster zuschlug und das Laub von den Bäumen fegte. Ein süßer Duft zog durch die Werkstatt. Jasmin?, überlegte der Schuhmacher, da sah er plötzlich jemanden am Ladentisch stehen. Er komme gleich, rief er und kramte weiter in der Schublade. Wo war nur sein Gehilfe, zum Deibel noch mal? Vielleicht konnte der ihm erklären, warum die Nägel dort waren, wo die Pinsel hingehörten, und die Pinsel dort, wo die Schuhcreme hingehörte. Schlamperei! Schließlich schob er die Schublade zu und wischte sich die Hände ab. Jetzt musste er sich um die Kundschaft kümmern. Er wollte sich gerade entschuldigen, als auf einmal die Zeit stehen blieb. Kein Wind, kein Ton, weder kalt noch warm. Spachtel, Nagel, Leim, das alles existierte nicht mehr. Max sagte instinktiv »Hallo«, seine Knie wurden weich, und das Kinn sank ihm auf die Brust.
Hannah Kutner trug Rosa.
* * *
Fany hatte versucht, sich umzubringen. Sie delirierte seit Monaten, von einem Schub zum nächsten, vollgestopft mit Medikamenten, führte Selbstgespräche, bis Hannah ihr das Blut an den Pulsadern stillen und den Krankenwagen rufen musste. Der Pater im Krankenhaus Santa Casa de Misericórdia verabreichte ihr gerade die Letzte Ölung, als sie erklärte:
»Ich bin Jüdin!«
Und das blieb sie auch im Krankenbett. Oder etwa nicht? Es hieß sogar, sie sei vom Teufel besessen. Die Stimme, der Blick, alles an ihr hatte sich verändert. Zwischen Spritzen und Tabletten beschimpfte sie die Krankenschwestern und spuckte ins Essen. Hannah wollte sie schon in eine Irrenanstalt sperren lassen, zu all den anderen Kleopatras und Jungfrauen Marias, da trug Fany endlich ihr Anliegen vor: Max Kutner.
Kurz darauf saßen Hannah und Max im Taxi zum Krankenhaus.
»Entschuldige die Unannehmlichkeit, aber sie will unbedingt mit dir sprechen. Sogar die Ärzte haben darum gebeten.«
Der Wagen fuhr die Avenida Beira-Mar entlang in Richtung Zentrum. Hannah wirkte traurig und müde, sie starrte auf die Möwen, die über der Baía de Guanabara kreisten. Sie trug ein gerade geschnittenes Kostüm, der Rock reichte ihr bis über die Knie, keinen Schmuck, keine Schminke. Max gegenüber war sie zurückhaltend und pragmatisch, als würden sie sich nicht kennen. Und er, noch recht perplex über ihrAuftauchen (allerdings nicht über den Grund dafür), kratzte sich am Kinn. Wer hätte gedacht, dass sie beide so plötzlich zusammen in einem Taxi sitzen würden? Und was saß da anderes an seiner Seite als ein verschimmelter Mythos? Die Zeit heilte doch alle Wunden. Die Zeit, diese wundersame Brille, ließ einen die Menschen und Fakten in ihren wahren Ausmaßen erkennen, ohne all das, was damals so wichtig erschien oder einen angeblich erwartete. Arme Hannah, Zeugnis vergangener Tage, Signifikant ohne Signifikat. Wen hatte sie wohl seit dem letzten halben Jahr auf dem Gewissen, wie viele Herzen hatte sie gebrochen? Er wollte es gar nicht wissen. Im Übrigen hatte ein Wiedersehen auch seine Vorteile. Das ist deine Chance, Max! Jetzt kannst du vergessen zu vergessen. Hast du gehört, Hannah? Du bist ein Fossil!
Selbstverständlich saß Max nur im Taxi, um Fany zu besuchen, und nur die Umstände wollten es, dass Hannah zufällig mit von der Partie war. Es war ganz natürlich, wenn die Vergangenheit sich hin und wieder meldete, natürlich und gesund, aber bitte in Maßen und so, dass man etwas daraus lernte. Nostalgie? Ein Haufen Irrlichter in den Randgebieten der Erinnerung, die uns manchmal besuchen kommen und sich aufführen wie entthronte Königinnen, als würden sie noch die Regeln diktieren. Ein bisschen imponieren sie einem sogar mit ihren stumpfen Kronen, aber im Grunde sind es doch
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