Hannahs Briefe
der Schuhmacher.
Der Leutnant fuhr fort:
»Alles lief bestens, fast zu gut, bis jemand an die Tür klopfte. Ich bekam Panik! Wenn man mich in dieser Situation erwischt hätte! Ich wäre sofort ins Kittchen gewandert, mein Lieber! Aber es war eine andere Krankenschwester, die schon überall nach Maria gesucht hatte. Ihrer Tochter gehe es schlecht. Maria war völlig verzweifelt, weil sie vergessen hatte, die Medikamente bei ihrer Freundin vorbeizubringen. Im Nu war sie angezogen. Aber ein Unglück kommt selten allein. Als wir von der Toilette kamen, kehrte die Kollegin zurück und meinte, die Ärzte müssten den Polizisten operieren und dass sie Maria sofort bräuchten.Sie fing an zu weinen. Und was jetzt? Tochter oder Arbeit? Da hatte ich eine Idee, warum nicht? Wo der Mann sowieso operiert werden musste, konnte ich ihrer Tochter doch die Medikamente bringen. Und genau das tat ich! Maria wohnte in der Rua do Riachuelo, bei den Arcos da Lapa, in einem Apartmenthaus. Mir war das ein bisschen unangenehm, klar, war ja nicht normal, einfach so bei jemandem in die Wohnung zu gehen. Das Medikament stand im Badezimmerschrank, ein ziemlich großes Glas. Die Freundin wohnte in der Rua dos Inválidos, im letzten Haus einer kleinen Seitengasse. Es ging alles ganz schnell, sie bedankte sich und schloss die Tür, das war alles. Mission erfüllt.«
Staub machte eine Pause.
»Als ich ins Krankenhaus zurückkam … stellen Sie sich vor, Kutner, da stand der Kollege draußen vor der Tür.«
»Wie? Schon?«
»Dem ging es besser als mir.«
»Und die Operation?«
»Er hatte sich nur den Fuß verstaucht.«
Max verstand nicht ganz. Staub erzählte weiter:
»Er hatte eine kokainsüchtige Prostituierte in der Rua do Riachuelo verfolgt, war gestolpert, hingefallen und im Krankenhaus gelandet.«
»Und die Krankenschwester?«
»Maria war keine Krankenschwester. Und das Medikament, das ich geholt habe, war auch kein Medikament. Es war Kokain.«
»Nein!«
»Eine Falle, mein Lieber! Eine richtig schöne Falle! Stellen Sie sich vor, ich bin reingelegt worden wie der letzte Trottel. Und was Maria betrifft …« Staub machte es spannend. »Sie können sie auch Hannah nennen.«
Entsetzen.
»Oj, main Got!«
»… und die Dealerin war Fany.«
Max verschlug es die Sprache, was für eine Dreistigkeit! Er fühlte sich solidarisch mit Staub, sie waren sozusagen vom selben Blitz getroffen worden.
»Was haben Sie gemacht, als Sie dahinterkamen, Leutnant?«
»Nichts. Hannah kam danach zu mir, um alles zu erklären. Fany sollte den Stoff einem Dealer geben, es ging um Leben und Tod. Aber unser Mann schob vor ihrer Tür Wache. Fany wurde von der Polizei überwacht und wusste das. Also ging sie aus dem Haus und lenkte ihn ab. Dann tauchte Hannah auf und stolperte über ihn. Na ja … den Rest wissen Sie ja.«
»Oh, ja!«
»Sie ist zu allem fähig, ich habe sogar schon überlegt, sie zu verhaften. Ich habe mit Hauptmann Avelar gesprochen, nur dass er hoffnungslos in sie verliebt ist. Da wir uns nicht trauten, sie zu verhaften, sind wir zu unserem Chef gegangen. Der war ebenfalls verrückt nach Hannah und fing an zu weinen. Also beschlossen wir, sie in unser Team zu holen. Heute ist sie unsere beste Mitarbeiterin.«
»Danke, Leutnant«, sagte Hannah, die sich unauffällig von hinten genähert hatte. »Wie ich höre, habt ihr einen neuen Auftrag für mich. Soll ich wieder verreisen?«
Der Leutnant erschrak, fasste sich aber schnell wieder.
»Ein Auftrag von höchster Wichtigkeit, nur du kommst dafür in Frage.«
Hannah seufzte.
»Ich bin so müde, Leutnant …«
»Tut mir leid, Hannah, es handelt sich um eine äußerst heikle Angelegenheit.«
»Was ist das Problem?«
»Erinnerst du dich an diesen Deutschen, den Hafenarbeiter?«
»Oskar Stein.«
»Genau.«
»Verstehe.«
»Morgen früh geht es los.«
Hannah wollte sich gerade verabschieden, da kam Staub eine Idee. Er räusperte sich.
»Wenn ich es mir recht überlege … wie wäre es, wenn du in Begleitung reist?« Er klopfte dem verdutzten Schuhmacher auf die Schulter. »Sprechen Sie Polnisch, Kutner?«
* * *
Deutschland, ein Jahr zuvor
Der Mohel nahm die Instrumente aus dem Etui undlegte sie neben das Baby, das im Arm seines Paten schlief.
»Die Beschneidung«, erklärte er den Anwesenden, »ist eine Tradition, die den Juden vom Götzendiener unterscheidet. Und Sie wissen ja, wozu die Götzendiener imstande sind.«
Ja, das wussten alle, vor zwei Jahren hatten die Nürnberger
Weitere Kostenlose Bücher