Hannahs Briefe
würde. Das hielt sie für unwahrscheinlich.
»Dazu wird es nicht mehr kommen, ich liege im Sterben.«
Max wich aus.
»Zum Glück hat Hannah meine neue Adresse herausgefunden und mich hergebracht.«
Fany reagierte gereizt.
»Sie glauben also wirklich, dass Hannah Ihre neue Adresse ›herausgefunden‹ hat?« Sie riss die Augen auf. Plötzlich schien sie zu neuem Leben zu erwachen. Wütend rief sie: »Seien Sie doch nicht so naiv, Senhor Kutner! Sie hat Ihnen geholfen, das Haus zu kaufen, sie hat die Hälfte bezahlt.«
Jetzt schaltete Hannah sich ein: »Halt den Mund, Fany!«
Max wich überrascht zurück, während Hannah nach den Pflegern rief und Fany in ein teuflisches Gelächter ausbrach.
»Oder glauben Sie, Sie hätten genug Geld, um in Flamengo zu wohnen?« Sie seufzte. »Was für ein guter Mensch sie ist! Jedem hilft sie! Hannah und Gott sind überall! Nur, dass Gott nicht allmächtig ist.«
Als Max hinausgedrängt wurde, fing Fany an zu strampeln.
»Senhor Kutner! Senhor Kutner! Das war es nicht, was ich Ihnen sagen wollte!« Die Pfleger hielten sie fest, und sie brüllte, so laut sie konnte: »Da ist noch etwas, das Sie wissen müssen …«
»Was muss ich wissen?«, brummte Max.
»Verschwinde!« Hannah schob ihn zur Tür. »Geh!«
Max taumelte durch den Flur bis zu einem gartenähnlichen Innenhof und setzte sich auf eine Bank. Plötzlich ergab alles auf eine schmerzhafte Weise Sinn! Er hatte für das Haus in Flamengo in der Tat einen niedrigen – um nicht zu sagen: lächerlichen – Preis bezahlt. Und dann Hauptmann Avelars Bürgschaft, und wie schnell der Handel zustande gekommen war. Natürlich hatte Hannah ihre Finger im Spiel gehabt. Sie hatte ihm geholfen, woanders Wurzeln zu schlagen, weg von der Praça Onze, weg von ihr. Oj wej! Der Tunnel, den Max sich in die Freiheit gegraben hatte, war in Wirklichkeit ein Brunnenschacht. Er fühlte sich in seiner Ehre verletzt, in seinem freien Willen, seiner Männlichkeit. Hannah war seine Strafe, seine Tragödie, seine Bestimmung. Wenn er nach Patagonien flüchtete, würde sie ihn dort als Pinguin verkleidet erwarten, in der Sahara wäre sie der Höcker eines Kamels. Berg oder Tal, Himmel oder Hölle, Hannah war nicht zu entkommen. Max war kurz davor, in Panik zu geraten, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Erschrocken drehte er sich um und erblickte niemandGeringeren als Leutnant Staub. Was hatte der hier zu suchen?
»Ich muss mit Hannah sprechen«, lautete die Antwort.
Na, klar!, dachte der Schuhmacher. Mit wem sonst? Staub besuchte seine Lieblingsangestellte – falls nicht er ihr Angestellter war.
Der Leutnant schwieg scheinbar komplizenhaft, setzte sich und fragte schließlich, warum der Schuhmacher so niedergeschlagen sei. Ging es Fany schlechter?
»Ich weiß einfach nicht mehr weiter!« Er schluchzte. »Ich wollte nie diese Briefe übersetzen, für die Polizei arbeiten, andere bespitzeln. Alles, was ich wollte, war, in meiner Werkstatt zu sitzen und Schuhe zu reparieren. Und jetzt ist mein Leben ein einziges Chaos, ein Schlamassel ohne Ende.«
»Ich kann Sie verstehen, Kutner. Mir ging es genauso. Bis vor kurzem war ich ein Nichts auf der Wache, musste Aktenschränke aufräumen und irgendwelche Papiere stempeln. Bis sich eines Nachts alles änderte …«
Max sah den Leutnant neugierig an.
»Ich hatte Dienst in der Rua da Relação, als das Telefon klingelte. Ein Anruf aus einer Klinik am Platz der Republik, einer unserer Leute hatte sich bei einem Einsatz verletzt und wollte dringend mit mir sprechen. Ich fuhr hin. Dort empfing mich eine Krankenschwester, sie sagte, der Mann werde untersucht, ich solle mich gedulden. Wie lange, könne sie nicht sagen. Erhabe sich das Bein gebrochen, vielleicht müssten sie ihn operieren. Was sollte ich tun? Warten. Wir unterhielten uns, tranken Kaffee. Sie hieß Maria und hatte eine kranke Tochter, die diverse Medikamente nehmen musste. Sie arbeitete in drei verschiedenen Krankenhäusern, und immer wenn sie Dienst hatte, brachte sie das Mädchen zu einer Freundin. Eine echte Kämpferin.«
Staub rieb sich die Hände.
»Um es kurz zu machen, wir hatten … wie soll ich sagen? Ein Abenteuer. Stellen Sie sich vor, auf der Toilette im Krankenhaus. Unfassbar! Sie war es, die mich angemacht hat. Sie stehe auf Männer in Uniform. Ich kann es gar nicht glauben, aber so war es. Wissen Sie, Kutner, jeder Mann kann den Verstand verlieren, er muss nur die richtige Frau finden.«
»Oder die falsche«, seufzte
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