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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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Vorzimmer die Schuld daran, dass er schlecht geschlafen hatte. Er wurde von einem melodiösen Pfeifen geweckt und sah Hannah aus dem Bad kommen, das Handtuch zu einem Turban gewickelt.
    »Wie wär’s mit einer Runde durch den Park?«, fragte sie und zog ein lilafarbenes Kleid mit weißen Blumen an.
    Am Himmel war keine Wolke zu sehen. Es war ein strahlender Morgen, die Kinder spielten in den Alleen, Boote trieben auf dem See, auf dem Max am Tag zuvor gerudert war, der ihm allerdings nicht so trüb vorgekommen war wie jetzt die Welt um ihn herum. Die Sonne strich über die Wipfel der Bäume, ihre Strahlen tauchten die Landschaft in ein Helldunkel, das die Maler inspirierte, die mit der Palette in der Hand an ihren Pinseln kauten, während auf den Leinwändendie Farbe trocknete. Es war tatsächlich ein strahlender Morgen. Etwas zu strahlend im Grunde, als bemühte sich die Sonne um Applaus. Hannah trällerte vor sich hin, pfiff, redete albernes Zeug, nahm ein fremdes Baby auf den Arm. Max fragte sich, warum sie so fröhlich war, bis er die Antwort gefunden hatte. Natürlich! Sie war erleichtert, weil er sich während Guitas Besuch als José ausgeben würde. Sie würden die beiden in der Rua Paissandu zum Essen empfangen, Max in seinem Armsessel, auf dem Plattenspieler Haydn, und Hannah, die einen Braten aus dem Ofen zog. Guita würde überglücklich sein und stolz auf ihre Schwester, überzeugt von ihrer Reinheit und Bescheidenheit. Später würde sie ihr wunderbare Briefe schreiben, und jeden Morgen würde die Sonne scheinen, bis in alle Ewigkeit. Oder etwa nicht?
    Wahrscheinlich nicht, gestand sich der Schuhmacher ein. Guita war nicht der springende Punkt. Möge sie Hannah verzeihen, aber da waren noch einige andere Karten im Spiel. Max war nicht unbedingt verzweifelt, nur ein wenig verärgert. Und um diesen Ärger zu besänftigen, ging er auf ein Getränk in das Lokal am See, der im Übrigen eher ein lehmiger Pfuhl war, in dem ein Haufen Idioten ziellos vor sich hin trieben. Er unterdrückte gerade einen Rülpser, als Hannah ihn anstieß.
    »Da kommen sie.«
    Man begrüßte sich. Franz, der Safariweste und Hut trug, äußerte sich begeistert über die einheimischenKäsebrötchen. Hannah lobte die Marmelade im Hotel. Daraus entwickelte sich ein Gespräch über Speisen und Getränke, unter anderem ging es darum, welchen Wein man zu welchem Fleisch trank. Sie sprachen über die Konsistenz von Käse, Schokolade, Pasteten und Butter, kurz, über alles, was womöglich zu hart oder zu weich auf den Tisch kam. Fasziniert voneinander, kamen sie von einem Thema zum nächsten. Max fragte sich allmählich, ob das eine Taktik war oder ob Hannah ihren »Auftrag von höchster Wichtigkeit« vernachlässigte. Also beschloss er, seinen Part zu spielen.
    »Kennen Sie Polen?«
    Marlene sah Max verwundert an.
    »Polen?«
    »Ja.«
    Nicht dass es ihn besonders interessiert hätte, er wollte nur freundlich sein. Marlene zündete sich eine Zigarette an.
    »Kommt drauf an.«
    Max nickte verständnisvoll. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was sie meinte.
    »Kommt auf Pommern an. Wenn Pommern zu Deutschland gehört, dann nicht. Wenn es zu Polen gehört, ja.« Ein wenig mürrisch fügte sie hinzu: »Und, kenne ich Polen?«
    »Verstehe«, gab sich Max zufrieden.
    * * *
    Sie aßen im Hotel zu Abend, ohne Châteauneuf-du-Pape, dafür aber mit einem wunderbaren selbstgemachten Obstbrand. Nur Franz und Hannah tranken und tauschten dabei Gedanken aus, die der schlechtgelaunte Max schon nicht mehr zu verfolgen versuchte. Neben ihm saß Marlene wie ein ausgestopftes Tier. Nach einer Consommé wurde der Hauptgang serviert: gekochtes Fleisch mit einer dicken Soße, Reis und Kartoffelpüree. Max hatte keinen Appetit, Franz Brauns Zitrusgeruch widerte ihn an, bestimmt eines dieser Wässerchen, auf deren Etikett das Wort Paris stand. Nach dem Dessert erklärte Marlene, sie sei müde, und ging ohne weiteren Kommentar auf ihr Zimmer. Max blieb hilflos allein zurück. Und jetzt?
    »Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang?«
    Der Schuhmacher wollte den Schmerz verkürzen – oder zumindest etwas abschwächen. Doch der Schuss ging nach hinten los. Franz und Hannah liefen munter plaudernd in die Nacht hinaus, Max blieb hinter ihnen zurück, versuchte vergeblich, sie einzuholen, und stolperte durch die Dunkelheit, bis er Hannah nur noch in der Ferne lachen hörte.
    Max kehrte ins Hotel zurück. Er kam sich vor wie ein zerlumpter Soldat ohne jedes Ehrgefühl. Am

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