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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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Hannah sprach kaum ein Wort – nahm das Spiel sie so sehr gefangen? Als die Uhr Mitternacht schlug, zog man sich allmählich zurück, und die diensteifrigen Kellner fingen heimlich an zu gähnen. Franz Braun nickte Hannah und Max höflich zu und ging dann mit seiner schlechtgelaunten Frau hinaus.
    Am nächsten Tag verließen die beiden das Zimmer nur, um in einer Konditorei in der Nähe ein Eis essen zu gehen. Fast eine Stunde lang blieben sie löffelnd dort sitzen, ohne ein Wort zu wechseln. Irgendwann wischte sich Franz mit einer Serviette über den marineblauen Blazer, und Marlene zündete sich eine Zigarette an. Sie waren ein altes Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hatte. Marlene rauchte apathisch, ein Blick wie bei einer Totenwache, ihre Kleidung so farblos wie sie selbst. Franz hingegen, ganz der Galan, schaute so gut wie jedem Rock hinterher, der draußen vorbeilief. Von dort kehrten sie zum Hotel zurück.
    Nachmittags ging Max im Park rudern, während Hannah auf einem Kunsthandwerkermarkt Stickereien kaufte. Sie fuhren Kutsche und besichtigten einen Kuhstall. Auf einem Bauernhof für Touristen wurde Max fast von einer Gans gebissen. Sie kauften Käse und Süßspeisen und beschlossen den Tag mit einem Imbiss im Hotel.
    Nach dem Essen sahen sie Franz und Marlene am selben Tisch sitzen wie am Abend zuvor und sich beim Spiel von ihrer Einsamkeit ablenken. Zwei Stundenspäter schweifte Marlenes Blick ins Leere, bis ein Kellner mit einer Kanne Tee und Tassen kam. Als er sich über den Tisch beugte, um ihnen einzuschenken, verfing sich der arme Kerl und hielt das Tablett schief, damit ja keine der Tassen von ihrer Untertasse rutschte. Ein unglückliches Manöver, dem Gebrüll nach zu urteilen, das darauf den Saal erfüllte. Eine Pfütze Tee dampfte zwischen den Karten und der Kanne, die Franz Braun auf die Beine gefallen war, worauf dieser aufsprang und den Kellner, ein dünnes schwarzes Männchen, nach Leibeskräften beschimpfte. Hannah hatte alles mit angesehen und zeigte jetzt mit dem Finger auf den Schuldigen. Auf Deutsch erklärte sie:
    »Dieser Mann ist ein Tollpatsch! Dazu noch ein Schwarzer! Gestern hat er mein Kleid ruiniert, und jetzt das!« Dann, in gebrochenem Portugiesisch: »Rufen Sie den Oberkellner!«
    Max wunderte sich: Kleid, welches Kleid? Der Kellner war den Tränen nahe, während sein Chef ihn sich vornahm. Marlene rührte sich nicht, sie schien immer noch in Gedanken versunken. Der Maître kommandierte hysterisch vier Kellner und eine Putzfrau herum, die sich des Malheurs annahmen. Er bat Franz tausendmal um Entschuldigung, der sie wohl nur annahm, weil er zu diesem Zeitpunkt vor allem an Hannah interessiert war. Um den Frieden zu besiegeln, schlug sie vor, eine Partie zu viert zu spielen, und so blieb Max nichts anderes übrig, als mit der trübseligen Frau Braun ein Paar zu bilden.
    Kurz darauf legte Franz den ersten Canasta, woraufhin Hannah – alias Sylwia Kazinski – anfing zu erzählen und ein beeindruckendes Lügengespinst entwarf. Sie sprach über die Preise in Warschau, ihre Zwillingsbrüder (von denen einer, ein Pfarrer, in der Calixtus-Katakombe in Rom beigesetzt werden wollte), ihren deutschen Onkel, von dem sie gelernt hatte, Goethe im Original zu lesen (weswegen sie auch so gut Deutsch sprach), über die krankhafte Schüchternheit ihres Mannes gegenüber Fremden (die ein Schüler Sigmund Freuds diagnostiziert hatte), und so viel anderen raffiniert ausgedachten Unsinn, dass der Schuhmacher sich kaum auf sein Blatt konzentrieren konnte.
    Nachdem Franz und Hannah gnadenlos eine Partie nach der anderen gewannen, schlug der Deutsche vor, eine Pause einzulegen, damit die Verlierer sich entspannen konnten.
    »Kellner, Whisky! Marlene und ich kommen gerade aus Kopenhagen.«
    »Ach, wirklich?«, fragte Hannah begeistert. »Alexander und ich wollten schon immer nach Dänemark, nicht wahr, Schatz?«
    »In Jütland haben wir vier verschiedene Arten Hering gegessen.«
    »Wie köstlich! Reisen Sie zu Ihrem privaten Vergnügen?«
    »Kann man so sagen, ja.« Er senkte den Kopf. »Ich bin pensionierter Beamter, ich habe im Krieg gekämpft und leide an einer schweren Krankheit. Deräußere Schein ist alles, was mir bleibt. Erst vor kurzem musste ich eine Woche lang das Bett hüten. Wir wollten nach Rio de Janeiro und ins Amazonasgebiet reisen, aber der Arzt hat mich in dieses Mineralheilbad geschickt. Was soll ich machen? Trinke ich eben Wasser!«
    Max, der wegen seiner Verwandtschaft zum

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