Hannahs Briefe
zwischendrin standen klassische Skulpturen, die an Europa erinnerten. Die Menschen spazierten ohne jede Eile durch die Alleen und atmeten die frische Luft ein, während ihre Kinder lärmend umhertobten. Es war Dezember, die besseren Familien genossen bereits den Sommer. Und als es dunkel wurde, setzten Hannah und Max sich auf eine Bank und betrachteten die Sterne. Das war der Moment, in dem Hannah ihm anvertraute, sie sei beunruhigt, genauer gesagt zutiefst besorgt, nicht wegen der Brauns oder irgendwelcherdrohender Kriege, sondern weil Guita und Jayme sich angekündigt hatten.
»Die beiden wollen nächsten Monat kommen. Ach, wenn sie wüssten …«
Hannah sah sich von ihren eigenen Lügen in die Enge getrieben und musste jetzt die gute Schwester spielen, die Guita von ihr erwartete. Max kannte die ganze Geschichte in- und auswendig, und trotzdem erstaunte ihn der Anblick dieser Frau, die sonst immer Heldin war und jetzt mit ihrer größten – wenn vielleicht auch einzigen – Schwäche konfrontiert wurde. Ihre Stimme zitterte, als sie von ihrer Schwester sprach. Sie wischte sich eine Träne weg.
»Das Leben ist nicht einfach, Max.«
Er stimmte ihr ohne viel Aufhebens zu. Noch gab er sich gleichgültig und versuchte, jede Art von romantischen Gefühlen zu unterdrücken. Wozu sich falsche Hoffnungen machen? Solange ihn niemand vom Gegenteil überzeugte, war Hannah eine sprunghafte Seele, die kompromisslos ihre eigenen Interessen verfolgte. Und plötzlich kam Max dort auf der Parkbank eine Idee. Um einen Pragmatiker zu verführen, musste man ihm helfen. Wenn man in sein Leben treten wollte, musste man ihm etwas bieten. Max erkannte seine Chance, Hannah nicht nur nützlich, sondern unentbehrlich zu sein. Er nahm ihre Hand.
»Ich kann ja José spielen. Er hinkt doch, oder? Wir kaufen ein Paar Krücken, und du wohnst bei mir, solange Guita in Rio ist.«
Hannah sah ihn erstaunt an.
»Das würdest du für mich tun?«
»Ich würde noch viel mehr für dich tun!«, platzte es aus ihm heraus.
»Wirklich?«
»Ich schwöre!«
»Mein Gott, das wäre wundervoll! Was soll ich sagen? Danke!«
»Sag nichts.« Und dann, etwas übereilt: »Das ist nicht nötig.«
Er sah sie entrückt an.
Hannah ließ nicht locker: »Wie kann ich mich revanchieren? Ich würde mich gern erkenntlich zeigen.«
»Das brauchst du nicht. Tu, was dein Herz dir befiehlt.«
Max schwebte, er versank in Träumereien, aus denen er gleich darauf brutal gerissen wurde.
»Aber wir wollen es nicht übertreiben.«
Er schrak zurück.
»Übertreiben?«
»Nicht so laut. Franz und Marlene beobachten uns.«
»Wer?«
Max riss sich zusammen. Er erkannte das Paar von dem Foto, das Staub ihnen gezeigt hatte. Sie schienen kein Interesse aneinander zu haben und machten insgesamt einen traurigen Eindruck. Hatte Hannah etwa gewusst, dass die beiden sie beobachteten, und ihnen nur etwas vorgespielt?
* * *
Das Abendessen im Hotel Metrópole endete mit Nachtisch und Likör. Die Hotelgäste waren durchweg elegant gekleidet, Hannah trug eine braune Stola zu einem beigen Leinenkleid. Mit den kurzen Haaren sah sie unschuldig, fast kindlich aus, und auch die Perlenohrringe und eine Schmetterlingsbrosche trugen dazu bei. Im Foyer schlug sie vor, eine Partie Karten zu spielen.
Im Salon nebenan wurde gerade ausgeteilt, die Kellner leerten Aschenbecher aus und brachten Getränke. Das Durchschnittsalter war hoch, die Herrschaften hatten weiße oder gefärbte Haare, einige Damen trugen schweren Schmuck. Ein Oberkellner mit nervösem Muskelzucken führte Hannah und Max an einen hinteren Tisch in der Nähe von Franz und Marlene Braun, die für sich allein spielten, in Schweigen gehüllt. Sie mussten um die fünfzig sein, er leicht ergraut, gutaussehend, sie müde und niedergeschlagen.
Hannah und Max spielten fast drei Stunden lang. Um sie herum klirrten Gläser und Tassen in den runzligen Händen. Viele der Gäste rauchten und brannten Löcher in den grünen Filz. Heiteres Gelächter signalisierte das Ende einer Partie, dann wurden die Karten eingesammelt, und man versprach sich freundlich Revanche. Obwohl es ein schöner Salon war, mit Kristallleuchtern und edlen Spiegeln, haftete ihm etwas Düsteres an, als wäre das Spiel des Lebens bereits zu Ende gespielt und alles, was ihnen noch blieb, ein Stapel speckiger Karten. Die Bewegungen waren langsam, das Räuspern schwach, die Schultern gebeugt.Warum ähnelten sich die Menschen am Anfang und zum Ende des Lebens so sehr?
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