Hannahs Briefe
glauben Sie vielleicht, dass er wirklich krank ist, dass er etwas von Philosophie oder Religionversteht? Spinoza, Aristoteles! Sind Sie wirklich so naiv, Herr Kazinski? Alles, was er sagt, steht hier drin!« Sie hielt den Almanach berühmter Denker hoch. »Hier! Was hier nicht drinsteht, erfindet er spontan!«
Schluchzend gestand Max, auch Frau Kazinski sei – wie sollte er sagen? – ziemlich umtriebig und erfinderisch. Während die beiden ihren Tränen freien Lauf ließen, zog ein Hotelangestellter die Vorhänge auf. Licht durchflutete den Raum, ein Kuckuck rief. Der Tag erwachte. Sie sahen Kinder auf dem Schoß ihrer Eltern sitzen und hörten das Frühstücksgeschirr klappern. Von draußen drang Pferdegetrappel zu ihnen. Stimmen riefen durcheinander. Eine Familie beglich an der Rezeption die Rechnung, der Concierge läutete ein Glöckchen. Ein junger Mann erschien in violetter Uniform und Zylinder. Aus den Augenwinkeln machte Max plötzlich eine unglaubliche Entdeckung. Vom Nebel verschleiert, das Gesicht tränenüberströmt, beobachtete Marlene ihn mit dem Anflug eines Lächelns. Und auch Max hätte fast gelächelt.
Mochten die Sieger ihnen verzeihen, aber nichts schweißt mehr zusammen, nichts ist tröstlicher als ein geteilter Misserfolg.
* * *
Zurück in Rio, wurden Hannah und Max von einem als Kofferträger getarnten Polizisten empfangen und zu einem Wagen gebracht. Am Steuer saß LeutnantStaub mit Käppi und Brille. Er informierte sie darüber, dass sie an einem geheimen Ort vernommen würden, und fuhr los in Richtung Tijuca. Es war sechs Uhr abends, die Massen strömten vom Zentrum in die Vororte und verstopften die Straßen. Als Hannah sich nach dem Stand der Dinge erkundigte, machte Staub ein ernstes Gesicht und berichtete dann mit Bedauern von Fanys Tod. Es sei eine »würdige« Beerdigung gewesen, das Totengebet habe man im Gelben Haus abgehalten. Hannah öffnete ein Schminktäschchen.
»Das war nicht anders zu erwarten«, sagte sie und steckte den Lippenstift wieder ein.
Sie begann ein angeregtes Gespräch mit Staub, es ging um Namen, Fakten und Vermutungen, von denen Max kein Wort verstand (falls er es denn gewollt hätte). Er war aufgewühlt und musste an Fany denken, die immer so freundlich gewesen war, aber auch voller Hoffnungen und Torheiten, die er geschickt ausgenutzt hatte, zumal sie ihn immer umschmeichelt, ihm alles erzählt und ihn so gern gehabt hatte wie niemand sonst in vierzig Jahren. Max erinnerte sich an ihre letzten Worte: »Da ist noch etwas, das Sie wissen müssen!« Als hätte er nicht schon genug gewusst. Mochte Fany in Frieden ruhen, dort, wo noch Gerechtigkeit zählte, wo jeder alles wusste und es für alles eine Erklärung gab.
Sie schlängelten sich die Straße nach Tijuca hoch. Es war dunkel, dort unten funkelte Rio wie ein sich spiegelnder Sternenhimmel. Max sah desinteressiertaus dem Fenster, ihn quälte immer noch die Frage, was zum Teufel Hannah mit Franz Braun angestellt hatte, bevor sie um neun Uhr morgens munter und mit zerzaustem Haar das Hotel betrat und den Auftrag für beendet erklärte. Im Zug zurück hatte sie die ganze Fahrt über geschlafen, ein wissendes Lächeln auf den Lippen, als wollte sie sich über den unglücklichen Schuhmacher lustig machen.
In Alto da Boa Vista öffnete sich ein Tor, Staub fuhr um einen Brunnen herum und machte dann vor einer Villa im normannischen Stil halt. Ein Butler führte Hannah und Max in ein Zimmer mit einem Esstisch, auf dem Karten und Dokumente ausgebreitet waren. Zwischen zwei silbernen Leuchtern hing ein Wandteppich mit einer Jagdszene. Der Kronleuchter war ebenfalls aus Silber, eine Art Weihrauchbehälter, der an vier Ketten von der Decke hing. Während sie schweigend warteten, fragte sich Max, was Hannah ihren Vorgesetzten berichten würde. Etwas, von dem er nichts wusste? Wie würde sie Braun darstellen? Würde sie ihn ganz objektiv beschreiben und zugeben, dass die Mission gescheitert war, weil sie verliebt in seine Arme gesunken war? Würde sie die Tricks und Lügen erwähnen, mit denen sie sich bei dem Deutschen eingeschmeichelt hatte, indem sie zum Beispiel im Spielsalon einen armen Kellner verleumdet und den Maître zur Verzweiflung gebracht hatte?
Irgendwann ging die Tür auf, und acht Männer betraten den Raum. Max hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er kniff die Augen zusammenund erkannte niemand Geringeren als besagten schwarzen Kellner, diesmal in eine elegante Alpakajacke
Weitere Kostenlose Bücher