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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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Jiddischen ein passables Deutsch sprach, bemerkte, die Quellen seien berühmt für ihre Heilkraft. Vielleicht geschah ja ein Wunder? Nach einem professoralen Räuspern erwiderte Braun:
    »Kennen Sie den Unterschied zwischen echten Wundern und denen, die keine sind, Herr Kazinski? Die Leute wollen immer nur die erklären, die keine sind, das ist alles.« Er nahm einen Schluck Whisky. »Mein Leben war stets von Logik bestimmt. Übrigens möchte ich Ihnen dazu eines sagen: Mir sind Überzeugungen lieber als Glaube. Auch wenn die Logik manchmal erschreckend sein mag, so ist sie doch eine gute Freundin. Den Preis der Klarheit zu zahlen ist besser, als sich umsonst täuschen zu lassen. Wer nur das glaubt, was ihm gefällt, neigt dazu, nicht zu glauben, was ihm nicht gefällt, mein Lieber, und nichts ist gefährlicher, als aus dem persönlichen Interesse einen Überzeugungsfaktor zu machen. Interessen sind von Fall zu Fall unterschiedlich. Tatsachen nicht.«
    Max protestierte vehement: »Ohne Glauben hat das Leben keinen Sinn.«
    »Und warum sollte es den haben?«, hielt der Deutsche dagegen. »Es gibt Milliarden von Wesen, die nieeinen Sinn in irgendetwas gesucht haben und denen es sehr gut damit geht. Mäuse, Krokodile, Schmetterlinge. Sie brauchen keine Religion, keinen Nationalsozialismus, keinen Kommunismus. Sie bringen sich nicht wahllos um und werden trotzdem als irrational bezeichnet!«
    Hannah klimperte aufgeregt mit den Augen. Braun fuhr fort:
    »Sagen Sie, Herr Kazinski, sind Sie da draußen auf der Straße schon mal auf einen ›Sinn‹ gestoßen? Nein, natürlich nicht, weil die reale Welt aus Materie und Tatsachen besteht. Romantische Abstraktionen existieren nur in den Köpfen der Menschen. Es ist wirklich anmaßend, zu glauben, die Kräfte des Universums würden sich einem ›Sinn‹ beugen.« Er machte eine feierliche Pause. »Meiden Sie, was Trost statt Klarheit verspricht, mein Lieber. Lassen Sie nicht zu, dass die Suche nach Glück Ihren kritischen Verstand abstumpft. Schon Seneca hat gesagt: Unusquisque mavult credere quam judicare! Ein jeder will lieber glauben als urteilen!«
    Braun trank seinen Whisky und starrte eine Weile auf das Eis in seinem Glas.
    »Leichtgläubige Menschen haben oft die schlechte Angewohnheit, Ursache und Zweck zu verwechseln. Sehen Sie zum Beispiel die Frau dort in Grün, die Dicke? Nehmen wir an, sie will eine Diät machen, um abzunehmen. Viele würden sagen, die Ursache für ihre Diät sei der Wunsch, schlanker zu sein. Falsch, völlig falsch! Die Ursache ist die Tatsache, dass sie dickist. Das Abnehmen ist der Zweck. Klingt simpel? Ich sage Ihnen, die Menschen bringen gern etwas durcheinander, wenn sie keine Ursache für ihre Zwecke finden. Und was machen sie? Begnügen sich mit dem Zweck! Genau das tut Gott: Er liefert Zwecke ohne Ursachen! Als würde diese Frau abnehmen wollen, obwohl sie dünn ist.«
    »Was raten Sie der Menschheit denn?«, fragte Max mit feiner Ironie.
    »Vernunft und Angst sind keine Feinde des Friedens, Herr Kazinski. Kritikloser Glaube hingegen hat zu schrecklichen Kriegen geführt, so wie dem, der sich jetzt in Europa abzeichnet. Was nützt es, inneren Frieden zu finden, wenn auf der Welt Krieg herrscht? Es ist ein Teufelskreis: Je mehr Krieg, desto mehr Verzweiflung, desto mehr Religion!«
    »Karl Marx sagt, Religion sei Opium fürs Volk«, warf Hannah ein.
    Darauf Franz: »Gott ist ein anthropozentrischer Wahn, aber es gibt noch andere Opiate. Kunst, Prostitution, Verbrechen. Das sind die Ventile, die die Zivilisation am Leben erhalten, durch sie entweichen ihre giftigen Gase. Prostituierte und Priester zähmen die Menschen, jeder auf seine Art. Frieden ist wichtiger als die Wahrheit, lehrt uns Voltaire.«
    Max’ Laune verschlechterte sich, je tiefer Hannah in den Augen dieses Wichtigtuers versank. Zwischen Whiskys und Zitaten entwickelte der Schuhmacher eine unterschwellige Zuneigung für Marlene. Die arme Frau zerschmolz wie eine Gebetskerze, dasWachs war zerflossen, und die Flamme brannte nur noch schwach. Sie war die Anti-Hannah, das Ende sämtlicher Träume und Triebe – und vielleicht gerade deswegen eine Quelle inneren Friedens.
    Etwas später, nachdem er all sein Wissen aufgetischt hatte, erklärte Franz das Gespräch für beendet.
    »Morpheus ruft! Morgen sehen wir uns wieder, abgemacht? Wie wär’s mit einem Abendessen? Mal sehen, ob wir in diesem Örtchen nicht einen Châteauneuf-du-Pape auftreiben.«
    * * *
    Max gab dem Sofa im

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