Hannahs Briefe
und würde es erst wieder hervorholen, wenn er den Mut dazu aufbrachte. Er hatte keine Lust mehr auf drastische Enthüllungen, Darstellungen, die vehement dementiert wurden, um von neuen provisorischen »Wahrheiten« abgelöst zu werden. Fany war tot, Punkt. Warum mischte sie sich weiter ein? Sollte sie ihre »Wahrheiten« doch vor das himmlische Gericht bringen! Ihn interessierte nur Hannah. Wo, wie und wann war sie so geworden?
* * *
Einen Monat später saßen sie in einem Café im Zentrum, beladen mit Einkaufstaschen voller Aschenbecher, dekorativer Vasen und allem, was Max’ Zuhause in ein eheliches Nest verwandeln würde. Guita und Jayme sollten in drei Tagen kommen, daher die Blumengestecke auf der Veranda, die Tüllgardinen und die Bilderrahmen mit Fotos, auf denen das Paar in romantischen Posen zu sehen war. Hannah trank einen Schluck von ihrem Kokosshake.
»Mein Vater war die rechte Hand des Rabbis in Bircza und in der Synagoge für alles Mögliche zuständig. Er brachte mir Lesen und Schreiben bei, was bei Mädchen selten war. In seiner Freizeit las er Bücher, aber nur die guten. Die schlechten brachte er in die Genisa .«
Eine Genisa , erklärte sie ihm, war ein Lagerraum, in dem Bücher abgelegt wurden, die niemand mehr benutzte. Manchmal reichte ein unlesbarer Buchstabe, eine herausgerissene Seite oder sonst irgendein Fehler, damit sie ausrangiert wurden, aber Texte, die den Namen Gottes enthielten, durften weder verbrannt noch weggeworfen werden. Die Tradition gebot es, sie zu begraben, was Hannahs Vater auch eines Tages vorhatte.
Als Hannah ihm einmal half, eine Thorarolle in den dunklen, staubigen Keller der Synagoge zu tragen, sah sie dort Unmengen von Büchern auf Jiddisch und Hebräisch liegen, einige mit Ledereinbänden und goldenen Titellettern. Ihrem Vater zufolge waren sie nichts wert, weil einzelne Seiten fehlerhaft,herausgerissen oder die Buchdeckel wurmstichig waren.
In der Woche darauf machte Hannah sich heimlich daran, den schimmligen Haufen Kommentare, Parabeln und Sprichwörter in Augenschein zu nehmen. Bei Kerzenlicht blätterte sie in den alten Büchern und verstand nicht, was so schlecht an ihnen sein sollte. Niesend stimmte sie dem einen zu, dem anderen nicht, und fragte sich dabei, wie es sein konnte, dass man diesen wertvollen Lehren kein Interesse mehr schenkte. Es war ihre erste heimliche Angewohnheit. Sie las die Fünf Bücher Moses , den Talmud, Maimonides, alles. Stundenlang hing sie über Paragraphen, Bibelsprüche und Verse gebeugt und forderte ihren kindlichen Geist. Hannah lernte zu lernen, sie zog sich ihr Wissen aus den unterirdischen Gewölben, aus Unvollkommenheit und Sünde.
Mit zehn Jahren fragte sie ihren Vater, ob es in Bircza Prostituierte gäbe.
»Was redest du denn da? Halt lieber den Mund und hilf mir!«
Also sah Hannah zu, wie die erste Schaufel Erde auf die Bücher und Thorarollen fiel.
»Das ist ungefähr die Hälfte«, schätzte ihr Vater. »Nächsten Monat begraben wir den Rest. Jetzt müssen wir die Synagoge für den Sabbat herrichten.«
Freitag, fünf Uhr nachmittags. In Bircza ließen die Juden Hacken, Webstühle, Sägen und Töpfe liegen und begingen ihren Ruhetag. Als drei Stunden später der Rabbi die wöchentliche Parascha las, drang plötzlichein Schrei durch die Synagoge. Mitten in der Zeremonie war Guita zur Welt gekommen.
Hannahs Schwester war ein »verfrühter Segen«, so der Rabbi. Und da ihre Mutter nicht bei Verstand war, mit den Bäumen stritt und in die Winde fluchte, musste Hannah schnell groß werden. Während andere Kinder mit Puppen spielten, erzog sie ihre Schwester mit Küssen und Schlägen und beseitigte die Unordnung, die sie selbst in ihrem Alter hätte veranstalten sollen.
1914 setzte das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand Europa in Brand. Männer zwischen siebzehn und fünfzig wurden an die Front gezerrt, darunter auch Hannahs Vater, der zu Hause abgeholt und später von den Russen totgetrampelt wurde. Auf einmal waren die Birczaer Männer, wenn nicht invalide, entweder zu jung oder zu alt, um den Boden zu pflügen und Holz zu fällen, und so oblag es den Frauen, sich Schwielen an den Händen zu holen – und, wie in Hannahs Fall, auch anderswo.
Guita war drei, zehn Jahre jünger als ihre Schwester, als ihr Mund vom Skorbut anschwoll. Hannah lief verzweifelt durch die Straßen und suchte unter den Trümmern nach Zitronen und Orangen, bis sie an russische Soldaten geriet, die eine Eisenbahnlinie
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