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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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zwei Abendkleider mit, ein dunkelblaues drapiertes aus Seide und eins aus elfenbeinfarbenem Chiffon mit goldenen Fäden am Kragen. Außerdem mein kleines Schwarzes von Chanel und ein paar praktische Ensembles für die Reise. Notfalls kaufe ich mir noch etwas in Rio. Wir haben genügend Zeit, wenn Jayme arbeitet.
    Natürlich würde ich gern bei euch wohnen, danke für das Angebot, aber Jayme hat schon eine Suite im Hotel Glória gebucht. Ich hoffe, es ist nicht zu weit von euch.
    Wie toll, dass José Schuhmacher ist. Apropos, was hält er von Keilabsätzen? Neulich habe ich mir in einem Salvatore Ferragamo fast den Fuß verstaucht.
    Viele, viele Küsse!
    Guita
    * * *
    Kopftücher aus Spitze, Schals, sogar Turbane schmückten die Köpfe der Trauergäste im Gelben Haus. Nachdem ein Zuhälter das Kaddisch aufgesagt hatte, ergriff Hannah das Wort. Sie lief barfuß mit kleinen Schritten zwischen den auf dem Boden sitzenden Frauen. Seit einer Woche beteten sie bereits, die Gesichter ungeschminkt, die Kleider als Zeichen der Trauer auf Brusthöhe zerrissen. Jedes tragische Ende war ein Vorzeichen (und für die Depressiven ein Stück Hoffnung). Vielleicht wartete Fany im Jenseits auf sie, vielleicht bekam sie dort Antwort auf ihre Fragen und hörte Hannahs sanfte, selbstbewusste Stimme, die jetzt die anderen tröstete:
    »Die uns beschimpfen und beleidigen und dabei die Heilige Schrift zitieren, tun zumindest einer unserer Vorfahrinnen Unrecht.« Hannah bewegte langsam die Hände. »Hat jemand von euch schon mal den Namen Raab gehört? Dann merkt ihn euch. Raab. Wer war diese Frau? Wenden wir uns noch mal dem Exodus zu und dem langen Marsch unseres Volkes in das Gelobte Land. Vierzig Jahre Wüste seit der Sklaverei in Ägypten waren verstrichen, Moses war gestorben, und Josua führte das Volk an. Wir standen vor den Toren Israels, mussten aber erst noch den Jordan überqueren und das stark befestigte Jericho einnehmen. Josua war ein vorsichtiger Mensch. Er schickte zuerst zwei Spione in die Stadt. Die beiden wurden jedoch enttarnt und von den Soldaten des Königs verfolgt. Die ganze Stadtsuchte man nach ihnen ab, Straße für Straße, Haus für Haus. Vergeblich.« Sie hielt kurz inne. »Und jetzt ratet, wer sie versteckt hat? Wer ihnen Unterschlupf gewährte und dabei das eigene Leben aufs Spiel setzte? Raab, meine Lieben, eine Dirne! Steht alles genau so in der Thora. Raab hat sie vor dem König von Jericho versteckt und unserem Volk damit einen großen Dienst erwiesen. Eine Heldin! Also, meine Lieben, seid stolz und denkt daran: Jeder Jude, ob orthodox oder liberal, steht in der Schuld einer Hure. Ich wage sogar zu behaupten, dass das gesamte Abendland sein Schicksal dieser Frau verdankt. Gesegnet sei Raab!«
    »Gesegnet sei Raab!«, wiederholten die Frauen.
    Mehr denn je war Hannah die Matriarchin dieser unehelichen Familie. Max verfolgte die Szene mit einer Mischung aus Ergriffenheit und Staunen. Diese heiligen Frauen standen für eine Perversion, mit der sie selbst oft gar nichts zu tun hatten. Ihre Glaubensrituale waren Momente der Selbstbestätigung, wie sie der Schuhmacher noch nicht erlebt hatte. Sie hatten weder Männer noch Ehre, also versuchten sie auf andere Weise, sich der Gesellschaft anzupassen, denn das war es, was sie insgeheim wollten. Tatsächlich waren es die Polackinnen, die eines Gottes und seiner Güte wirklich bedurften, nur Gott konnte ihnen helfen, die Prüfungen, denen sie hier auf Erden ausgesetzt waren, zu ertragen. Hannah bat alle, aufzustehen und sich die Hände zu reichen.
    »Dies ist das letzte Gebet der Schiv’a. Wir wollenuns jetzt von Fany verabschieden und ihren Geist in Frieden ziehen lassen, auf dass er über uns wacht, wo immer er sein mag.«
    Die Polackinnen bildeten eine Kette und gingen auf die Straße, wo sie klagend, schluchzend und zum Himmel winkend die Passanten verschreckten. Dann lösten sie ihr Haar, umarmten sich und schwenkten die Kopftücher. Endlich durften sie wieder in den Spiegel sehen, einige öffneten bereits ihre Schminktäschchen, legten Farbe auf und lachten und redeten dummes Zeug, als wäre nichts gewesen. Diese Frauen waren erfahrene Künstlerinnen, die ihr Publikum in den Betten verzauberten, in denen sie sich ihr Leben verdienten (und es verloren). Eine von ihnen kam auf Max zu und überreichte ihm einen Brief von Fany. »Wahrheiten« stand auf dem versiegelten Umschlag. Max lief ein Schauer über den Rücken, sofort stopfte er das Papier in die Hosentasche

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