Hannahs Briefe
Schuhmacher langsam wieder zu Bewusstsein kam.
Am Kai herrschte Hochbetrieb. Max setzte sich auf eine Bank und rieb sich nervös die Hände. Endlich würde er Hannahs Schwester kennenlernen, nicht mehr nur in Worten, sondern in Fleisch und Blut, endlich würde er ihr direkt in die Augen sehen und sich selbst ein Bild von ihr machen können. Doch am wichtigsten war, dass Guita ihn mochte oder zumindest respektierte. Er würde versuchen, sie für sich zu gewinnen, sich so gefällig wie möglich zu erweisen und jede unbequeme Überzeugung in seiner inneren Genisa zu verschließen. Hannah hatte ihm beigebracht, dass die Wahrheit sich nicht immer mit den eigenen Interessen vertrug und die Etikette nur dazu diente, einen guten Eindruck zu machen. Also, an die Arbeit!
Lautes Tuten kündigte die Ankunft des Schiffes an. Im dichten Regen war kaum etwas zu erkennen, doch dann begaffte die Menge ehrfürchtig das weiße majestätische Wunder mit der englischen Flagge am Rumpf, das jetzt vor ihnen festmachte. Durch den Dunst sah man an Deck bunte Punkte winken, worauf von unten begeisterter Jubel erklang. Das Tuten fuhr ihnen durch Mark und Bein. Der Dampfer war auf der Durchreise nach New York, ein Großteil der Leute ging hier an Bord oder verabschiedete Angehörige. Es war eine bewegende Szene. Popcornverkäufer liefendurchs Publikum und kassierten Kleingeld, stets auf der Hut vor Taschendieben, die hin und wieder in Handschellen aus dem Getöse geführt wurden.
»Ab jetzt heißt du José«, erinnerte ihn Hannah. »Hörst du? José!«
»José«, wiederholte Max leise.
Er würde tun, was sie von ihm verlangte, auch wenn er nicht mehr wusste, warum. Nichts freute ihn mehr, als sie euphorisch wie ein Kind herumspringen zu sehen. Max war längst nicht mehr so einfältig, noch gab er sich romantischen Träumen hin, es erfüllte ihn einfach mit Zufriedenheit, ihr zu helfen, sie fröhlich zu stimmen. Die ganze Welt, jedes Körnchen, jeder Tropfen und Funke erschien ihm in einem neuen, milderen Licht. Max hatte etwas Wesentliches erkannt. Wenn die Liebe bedingungslos war, dann war die Gegenliebe Konsequenz und nicht die Ursache.
Elf Uhr, es regnete nicht mehr. Der Dampfer hatte angelegt, das Tuten aufgehört, und zwischen Deck und Zollabfertigung wurde eine Hängebrücke aufgespannt. Die Sonne erfüllte die dichtgedrängten Geister am Kai mit Leben, und die Passagiere kletterten unsicher die schmalen Sprossen hinab. Hier und dort hörte man jemanden rufen, Kinder schaukelten auf Schultern, Alte keuchten, eine Militärkapelle spielte Karnevalsmärsche. Hannah kniff die Augen zusammen, wurde hin und her gestoßen, begrüßte die Falschen, bis sie einen lilafarbenen Fleck wild mit den Armen herumfuchteln sahen. Die Brücke wackelte so sehr, dass ein befiederter Hut durch die Luft segelte,die Möwen aufschreckte und in der Baía de Guanabara landete. Es war Guitas Hut.
Der 20. Januar 1939, die Sonne stand senkrecht am Himmel. Zehn Jahre nach ihrer letzten Umarmung und sechsundzwanzig nach der ersten begegneten sich die beiden Schwestern auf der Praça Mauá wieder – falls es Wiederbegegnungen gibt. Gerührt sahen die Umstehenden mit an, wie sie Freudenschreie ausstießen und sich weinend in die Arme fielen.
Kapitel 9
Sie spazierten über die Praça Onze.
»He, Max Kutner!«
Es war Mendel F., der zerlumpt und stinkend auf ihn zukam.
»Wie läuft’s mit den Huren? Warst du mal wieder im Bordell? Lässt dich gar nicht mehr im Schtetl blicken, was?«
Guita hielt ihren Sonnenschirm gerade.
»Wer ist das, José?«
»Keine Ahnung …«
»Seit wann gehst du auf Krücken, Max Kutner? Hast du dir die Beine gebrochen?« Und dann, mit einer obszönen Geste: »Es soll keine Hure sein unter den Töchtern Israels und kein Hurer unter den Söhnen Israels!«
Jayme stand mit offenem Mund da, bis Hannah die Initiative ergriff.
»Das reicht, verschwinde!«
Doch Mendel F. hatte noch etwas zu verkünden: »Du sollst keinen Hurenlohn noch Hundegeld in das Haus des Herrn bringen!«
Hannah verlor die Beherrschung.
»Verschwinde, Nichtsnutz! Und belästige uns nicht mit deiner hässlichen Visage!«
Ängstlich lächelnd zog Mendel F. ab wie ein Straßenköter, der, um seine Ehre zu retten, noch mal kurz die Zähne fletscht, bevor er jaulend Reißaus nimmt.
Max war schockiert, am liebsten hätte er Guita erwürgt. Warum hatte sie auch unbedingt ins »jüdische Ghetto« gemusst? Sie sah ihn fragend an.
»Wer war das, José?«
»Ich weiß
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