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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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kontrollierten. Eine Begegnung, die ihr Schicksal besiegeln sollte. Die weißen, dickbäuchigen Untergebenen des Zaren waren es leid, immer wieder zu denselben armen Frauen zu gehen, die schon so alt und verwüstet waren wie Europa.
    Hannah kam mit drei Orangen, zwei Broten und mehreren Würsten nach Hause. Von da an ergab sie sich einem Kampf, der ihr nicht nur das tägliche Brot, sondern auch die Achtung der Nachbarschaft einbrachte. Alles Erdenkliche luchste sie den Soldaten ab, von Medikamenten über Wodkaflaschen und Konserven bis hin zu warmer Kleidung. In ihrer Wohnung entstand ein Basar, ein gelobtes Land für eine Legion von Bedürftigen. Die Mutter wurde immer verrückter, sie sang und tanzte, während Hannah sich in der Genisa verkroch und in den modernden Büchern las. Inzwischen nieste sie nicht mal mehr.
    Nachdem 1915 die Russen in den Osten zurückgedrängt worden waren, fiel Hannah in Ungnade und wurde von denselben Leuten als Verräterin beschimpft, die ihr kurz zuvor noch die Hände geküsst hatten. Als die Mutter starb, ging Hannah ein letztes Mal in die Genisa , nahm Guita auf den Arm und verließ Bircza.
    Während des Krieges machte sie aus ihrem Körper ihr Arsenal. Sie schlief mit der halben Kaserne, betörte Kommandanten wie Kommandierte, verschacherte Geheimnisse und ging in die Schützengräben (wofür sie nicht selten vom Feind bezahlt wurde). Drei Mal wachte sie in den Armen von Toten auf. Sie lebte in eingenommenen Palästen, zwischen Trümmern, im Wald. Lernte diverse Sprachen und auch den jeweiligen gezierten Tonfall, mit dem die einen die Sprache der anderen nachahmten. Sie gab sich als Russin aus, als Polin und Amerikanerin. Sie war Betschwester,an Tuberkulose erkrankt und blind. Wahrheit oder Lüge? In Zeiten des Krieges ist die Wahrheit tödlicher als die Lüge – und in Zeiten des Friedens auch. Im Leben ging es immer um Lügen. Im Wald, im Meer, in der Arktis, in den Städten, was tun Tiere und Pflanzen anderes, als uns zu täuschen, zu verführen, zu verschleiern – mit einem Wort, zu lügen? Bevor es die Vernunft gab, die Ethik, die Moral, gab es die Lüge. Als der erste Mensch beschloss, die Wahrheit zu predigen, tat er das nicht aus Liebe zu Gott, sondern weil er Angst hatte, betrogen zu werden. Ganz einfach.
    Als 1918 die spanische Grippe Europas Leichenhäuser füllte, lebten Hannah und Guita in der Nähe von Pinsk in einem verlassenen Eisenbahnwaggon. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Hannah als Krankenschwester in einem Lazarett, wo sie den Toten und Sterbenden ihr Hab und Gut raubte. In ihrer Freizeit gab sie Guita improvisierten Unterricht in Grammatik und Judaismus und erklärte ihr, dass es mit der Welt so schlimm aussehe, weil Gott böse sei. Auf wen? Auf Guita natürlich, die nicht ordentlich aß und dauernd krank war. Da das Mädchen nicht wusste, was Frieden war, klagte sie auch nicht über den Krieg, aber eines Tages versprach Hannah ihr, dass, wenn sie nicht mehr weinte, die Welt fröhlicher würde. Guita, die sich schuldig fühlte, gleichzeitig aber auch stolz auf ihre Macht war, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelte. Und was passierte? Noch im selben Jahr endete der Krieg.
    Anfang der zwanziger Jahre lernte Hannah einen reichen Erben kennen und verliebte sich in ihn. Max Kutner war ein guter Kerl und Neffe eines Weissagers – und Hannah eine seiner Weissagungen. Nachdem sie sich verlobt hatten, ließ sie ihre Jungfräulichkeit in einer Klinik instand setzen, an deren Besitzer sie sich verkaufte, um die Operation zu bezahlen. In der Hochzeitsnacht blutete sie wie eine Jungfrau und träumte von einem Kind, das sie nie haben würde. Ihr Körper war ein einziges Wrack, aus ihrem Schoß entsprang nichts anderes als Lügen.
    * * *
    Es gibt keine Wiederbegegnungen, nur Begegnungen
    Shlomo Goldman
    Im feinen Nieselregen stieg Hannah am frühen Morgen in einem eleganten Cape am Hafen aus dem Taxi. Max trug einen Hut und ging an Krücken.
    »Ist das nicht der Schuhmacher?«, hörte man jemanden flüstern.
    Hannah trug rote Locken, ihre Augenbrauen waren nachgezogen. Am Abend zuvor hatte sie in einem Tanzklub an der Praça Tiradentes ihr Kleid durchgeschwitzt, während Max am Tisch saß und schnarchte. Die einen hätten vielleicht behauptet, Hannah habe zu viel getrunken, andere, sie sei ein schamloses Luder. Doch wer vollkommen ist, akzeptiert Kritik nuraus Mitleid. Hannah kümmerte sich nicht um die Blicke und tanzte, bis das Orchester verstummte und der

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