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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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es nicht, Guita. Ich habe ihn noch nie gesehen.«
    Oj wej, was für ein Desaster! Sie hätten nicht herkommen dürfen, warum liefen sie nicht zwischen den Palmen des Jardim Botânico oder am Strand von Ipanema entlang statt durch dieses Minenfeld. Dreck, Dreck, Dreck! Alles war so gut gelaufen, seitdem sie sich vor zwei Tagen auf der Praça Mauá in die Arme gefallen waren. Am ersten Abend hatten sie Carmen Miranda im Casino von Urca applaudiert. Am nächsten Morgen waren Hannah und Guita auf den Corcovado gefahren und hatten festgestellt, dass die Christusstatue von einem Juden erbaut worden war. Danach waren sie zu viert im Jockey Club gewesen, und Jayme hatte auf ein Pferd gesetzt, allein um sich für den Ausgang des Rennens interessieren zu können. Er hatte ein Vermögen verloren. Später hatte Guita ihrer Schwester goldene Ohrringe geschenkt, und Max – beziehungsweise José – hatte sich bei Jayme für den Mont-Blanc-Füller bedankt.
    Auf ihren Ausflügen flüsterten Hannah und Guita in einem eigenen Dialekt miteinander, derweil ihreBegleiter verlegen schwiegen. Jayme war ein echtes Mannsbild, stattlich, etwas über fünfzig, schwarzes, mit Gel fixiertes Haar, stets in seriöse Anzüge und Cowboystiefel gekleidet. Er sah aus wie ein Adliger mit seiner Brille, durch die er die Welt musterte, und der kleinen Guillotine, mit der er seine Zigarren köpfte. Ein Jude aus Córdoba, der Getreide anbaute und nach Brasilien gekommen war, weil er sich für Orangen und Kaffee interessierte und das Landesinnere von São Paulo kennenlernen wollte.
    »Mit Orangen ist Kalifornien zu seinem Vermögen gekommen.«
    Was sollte Max darauf antworten? Er kannte sich nur mit Sohlen, Nägeln und Schuhcreme aus – abgesehen von Prostituierten, Zuhältern, Dieben und Kommunisten natürlich. Kurz, nichts, worüber er sich mit Hannahs Schwager hätte unterhalten können. Der Mann sah sich gelangweilt auf der Praça Onze um, als hätte man ihn dazu gezwungen, während er sich nach dem Pariser Flair seines geliebten Buenos Aires zurücksehnte.
    Der grässliche Mendel F. war bereits verschwunden, als Hannah Max am Arm fasste.
    »Möchtest du dich setzen, Liebling? Reg dich um Gottes willen nicht über diesen Verrückten auf! Das ist alles meine Schuld, du kannst nichts dafür.« Und zu Jayme und Guita: »Dieser Irre hat mich schon in Pinsk verfolgt, ich habe keine Ahnung, wie er nach Brasilien gekommen ist. Jetzt glaubt er, José sei Max Kutner, mein erster Mann.«
    »Oh!«, raunte Guita in ihrer üblichen Affektiertheit. »Wie unheimlich. Désolée. «
    Hannahs Schwester hatte blondes, welliges Haar und war eine dieser exotischen Frauen, die, je nach Charakter, schön oder hässlich sein können. Sie war schlank und kleiner als Hannah, hatte weit aufgerissene Augen und schmale Lippen. Sie trug nur Haute Couture und war überall mit Rüschen und Schleifen ausstaffiert. Sie redete und redete – oh, wie sie redete! – mit einer nervtötenden Stimme über König Salomon und australische Schnabeltiere, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Nie konnte sie den Mund halten und jemand anderem zuhören, wenn es mal nicht um irgendwelchen Unsinn oder böse Verleumdungen ging. Sie sammelte Wahrheiten mit dem Dünkel eines Menschen, der nie über schlechte Witze lachen musste, obwohl er sie selbst verschuldete, und benutzte ständig Fremdwörter wie chic , Beverly Hills und Status quo . Guita bestätigte die Regel aus dem Talmud, nach der eine Münze in einem Krug mehr Lärm macht als ein ganzer Haufen. Beim Anblick des Cinema Centenário, des Stolzes der Praça Onze, bemerkte sie, Marlene Dietrich habe sich für eine Rolle in Hollywood von einem Optiker die Pupillen weiten lassen.
    »Sie hat nichts mehr gesehen am Set«, kreischte sie.
    »Du dagegen bist schon mit geweiteten Pupillen zur Welt gekommen«, brummte der Schuhmacher in sich hinein, während die Sonne ihm auf den Schädel brannte und Hannah vorschlug, um ein wenig denGeist zu lüften, in ein nahe gelegenes Café namens Jeremias zu gehen.
    Jüdischer ging es nicht. Im Café Jeremias saßen Linke und Rechte zusammen, Jiddisten und Hebraisten, Griechen und Trojaner. Die Schneider nahmen noch vor Ort Maß an jedem, der Stoffe bei einem der fliegenden Händler gekauft hatte, die von Tisch zu Tisch ihre Ware anpriesen. Jederzeit und zu jedem Anlass entflammten Diskussionen. Nicht selten stand jemand auf und hielt eine Rede, bis ein anderer Redner ihn zum Schweigen brachte. So war das

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