Hannahs Entscheidung
sein. Mitunter war dies allerdings nicht weniger wert als ein guter Rat oder eine liebevolle Geste.
Unten am Treppenabsatz wartete Tsali schwanzwedelnd mit vorwurfsvollem Blick aus dunklen Augen. Tayanita legte sanft ihre Hand auf den seidigen Kopf des Hundes.
»Du bist hungrig, nicht wahr? Ich habe in dem ganzen Trubel vergessen, mich um dein Essen zu kümmern.«
Wie zur Bekräftigung stupste Tsali mit der Schnauze an ihre Hand.
»Na komm. Lass uns mal sehen, was wir auftreiben können.«
Tsali trottete mit Tayanita im Schlepptau in die Küche, wo sie sich erwartungsvoll vor dem Küchenschrank niederließ. Tayanita suchte eine Dose Hundefutter aus, öffnete sie und füllte das Fleisch in Tsalis sonnengelbe Keramikschüssel.
»Hier, meine Gute.« Liebevoll tätschelte sie Tsalis Flanke, bevor sie den Napf auf den hellen Natursteinfliesen abstellte. »Ich frage mich, was unserem Gast da oben wohl zugestoßen sein mag. Was meinst du?«
Tsali sah kurz zu ihrer Herrin auf, schüttelte unwillig den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Futter zu, das so verführerisch duftete.
7. Kapitel
S chweißgebadet und mit hämmerndem Herzen schreckte Hannah hoch. Sie hatte geträumt. Irgendetwas von wilden Wölfen, die sie zähnefletschend durch dichtes Waldgestrüpp gejagt hatten. Sie fuhr mit dem Handrücken über ihre klamme Stirn und schwang die nackten Beine über die Bettkante.
Inzwischen war es dunkel im Zimmer, dunkel und stickig. Sie trat ans Fenster, um es hochzuschieben. Die hereinströmende kühle Luft prickelte auf ihrer nackten Haut. Zwischen den dunklen Blättern der Eiche glitzerten Sterne, und der Mond schwebte als runder, gelb leuchtender Ballon über der Bergkette der Appalachen. Während Hannah mit brennenden Augen in die Nacht starrte, überfiel sie schreckliche Einsamkeit. Voller Sehnsucht dachte sie an Ellie. Wie gern wäre sie jetzt bei ihr. Hoffentlich würde sie ihre Großmutter morgen erreichen. Sie konnte es nicht erwarten, die liebe Stimme zu hören. Ein Gefühl der Beklemmung beschlich sie, als ihre Gedanken zu Shane wanderten. Shane, vor dem sie sich plötzlich fürchtete. Daher wohl der Albtraum mit den Wölfen. Sie hatte Angst, dass er sie aufspürte. Dass er versuchen würde, sie zurückzuholen. Aber das war ausgeschlossen. Er konnte unmöglich wissen, dass es sie in dieses Nest verschlagen hatte. Sie war in Sicherheit. Eine Hand auf ihre Brust pressend, zwang sie sich, tief durchzuatmen. Nach einer Weile schloss sie das Fenster und schlüpfte wieder ins Bett.
Sie erinnerte sich daran, wie sie Shane kennengelernt hatte. An jenem Tag saß sie in der Mittagspause in der Krankenhauscafeteria des Charlotte Memorial , wo sie als Schwester in der Notaufnahme arbeitete, vor einem Buch und knabberte gedankenverloren an ihrem Caesar Salad. Shane, der am Nachbartisch saß, hatte ihr zugezwinkert, was sie erröten und ihre Nase rasch wieder in die Buchseiten stecken ließ. Doch es wollte ihr nicht mehr gelingen, sich auf den Roman zu konzentrieren. Immer wieder wagte sie einen verstohlenen Blick in seine Richtung. Natürlich ertappte er sie dabei und es kam, wie es kommen musste. Mit einem amüsierten Schmunzeln erhob er sich. Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich mich zu dir setze, hatte er gesagt. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Unverschämt gut sah er aus. Wenn er lächelte, tanzte auf seiner rechten Wange ein Grübchen. Seine blauen Augen blitzten sie herausfordernd an. Die leicht gewellten rotblonden Haare, die bis zu den Schultern reichten, seine abgetragene Lederjacke und die bunten Stoff- und Lederbänder um seine Handgelenke ließen ihn verwegen wirken. Ihr fiel auf, dass sein linker Fuß in einem frischen Gips steckte, der noch in jungfräulichem Weiß strahlte. Shanes witzige, freche Art und die charmante Lässigkeit schlugen sie vom ersten Moment an in seinen Bann. Dieser Kerl mit irischen Wurzeln, der so anders schien als die wohlerzogenen Männer, mit denen sie bisher ausgegangen war, brachte ihr geordnetes Leben gehörig durcheinander. Ursprünglich Schreiner, hatte er seinen Beruf an den Nagel gehängt, um mit seiner Rockband, den Twisted Souls , auf Tournee zu gehen. Die Gruppe hatte bislang nur auf den kleinen Bühnen Ohios gespielt und hoffte nun, auch außerhalb des Bundesstaats bekannt zu werden.
An jenem Tag, als Shane Mulligan sich ungefragt zu ihr an den Tisch setzte und von ihrer Cola trank, fasste Hannah, die normalerweise jede Entscheidung gründlich
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