Hannahs Entscheidung
überdachte und stets das Für und Wider sorgfältig abwägte, völlig untypisch einen spontanen Entschluss. Ihn wollte sie und keinen anderen. Mit einer Kollegin besuchte sie sein Konzert in der Tremont Music Hall , verliebte sich in seine Stimme und in ihn. Vier Wochen später packte sie ihr Hab und Gut, um ihm nach Marietta zu folgen, und brach ihrer Großmutter damit das Herz. Shane versprach Hannah all die Dinge, die sie sich wünschte. Ein schönes Heim, eine Familie. Eine sichere Zukunft. Die ersten Jahre führten sie ein glückliches Leben. Hannah fand rasch Arbeit. Zunächst als Aushilfe in einer Arztpraxis, dann bei Walgreens in der Apotheke. Shane ging regelmäßig mit seinen Jungs auf Tournee. Alles schien gut zu laufen. Doch irgendwann änderte sich Shanes Laune, er wurde missmutig, griff immer häufiger zur Flasche. Wenn Hannah ihn um etwas bat oder den Wunsch nach einem Kind äußerte, vertröstete er sie, murmelte etwas von momentanen Engpässen und Rückschlägen.
Als es mit der Trinkerei schlimmer wurde, versuchte sie, seine Mutter Bernice auf ihre Seite zu ziehen. Doch die winkte nur lachend ab und murmelte, es sei lediglich eine Phase, die ihr Sohn durchmachte wie andere Männer auch. Hannah fand es zunehmend schwerer, ein vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen. Er schien in seine eigene Welt abzudriften, zog sich mehr und mehr zurück. Abweisend wurde er, kalt und ungerecht. Fast jeden Nachmittag verschwand er wortlos und kehrte meist erst am frühen Morgen angetrunken zurück. Wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit machte, schlief er auf dem Sofa im Wohnzimmer seinen Rausch aus. Langsam dämmerte ihr, dass sie so nicht weiterleben wollte, aber sie zögerte, ihn zu verlassen. Hatte sie nicht alles für diesen Mann aufgegeben? Alle Brücken hinter sich abgebrochen? Sich mit ihrer Großmutter überworfen? Dem Menschen, der sie mit offenen Armen bei sich aufgenommen hatte, als sie alles verlor. Sie schämte sich, wenn sie jetzt daran dachte. Wie konnte sie ihrer Großmutter nach all den Jahren des Schweigens ins Gesicht blicken? Ihr blieb jedoch keine andere Wahl. Wenn sie ihren inneren Frieden wiederfinden wollte, musste sie Ellie um Verzeihung bitten. Und hoffen, dass die alte Dame das Herz und die Größe besaß, ihrer Enkelin zu vergeben. Hannah griff nach ihrer Armbanduhr auf dem Nachttischchen. Noch ein paar Stunden, dann würde es hell werden und sie könnte Ellie anrufen.
*
Eliza Mitchell, eigentlich Eliza Mae Mitchell, geborene Dubois, summte vor sich hin, während sie den ausladenden Strohhut auf ihre sorgfältig zurechtgemachten Haare setzte. Sie war stolz auf ihre immer noch volle Haarpracht, auch wenn ihr ehemals goldblondes Haar mittlerweile silbergrau schimmerte. Jeden Morgen fasste sie die langen Strähnen zusammen und formte sie sorgfältig zu einem Dutt, den sie mit unzähligen kleinen Nadeln tief an ihrem Hinterkopf befestigte. Noch einmal presste sie die Lippen aufeinander, um den lachsfarbenen Lippenstift zu verteilen. Zufrieden nickte sie ihrem Spiegelbild zu. Ihre hellen Augen blickten wach und lebhaft aus dem herzförmigen Gesicht, dessen ehemalige Schönheit noch immer offensichtlich war. Nicht schlecht für eine alte Schachtel von fünfundsiebzig, dachte sie feixend.
Erstaunlich, dass sie sich derart lebendig fühlte, war sie doch gestern den ganzen Tag mit ihren Freundinnen vom Bridge Club unterwegs gewesen. Eine der Damen, Agnes Carnegie, hatte ihren achtundsechzigsten Geburtstag – Meine Güte, achtundsechzig! Wie jung das in ihren Ohren klang! – gefeiert und die Gesellschaft auf ihr Anwesen nach Myers Park eingeladen. Im Garten hatten sie im Schatten mächtiger Weiden-Eichen wunderbare Stunden mit Essen, Spielen und kurzweiligem Geplauder verbracht. Eliza war erst kurz vor Mitternacht heimgekehrt, umso verwunderlicher schien es nun, dass sie keinerlei Müdigkeit verspürte. Gut gelaunt griff sie nach ihrer Handtasche sowie der großen Leinentasche mit den vorbereiteten Patchworkstücken, nahm den Schlüsselbund vom Haken und öffnete die Haustür. In diesem Moment klingelte das Telefon in der Küche. Eliza verharrte einen Augenblick, unschlüssig, ob sie das Gespräch entgegennehmen sollte. Sie beschloss, das Läuten zu ignorieren. Wer etwas Wichtiges zu vermelden hatte, würde es erneut versuchen. Wenn sie sich jetzt in ein Gespräch verwickeln lassen würde, käme sie zu spät zu ihrer Handarbeitsgruppe. Die Damen warteten heute besonders gespannt
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