Hannahs Entscheidung
lag, auf der Brickmans Rinder grasten. Tayanita betrachtete es als Glück, dieses Plätzchen Erde gefunden zu haben, und wieder einmal sandte sie ein stilles Dankesgebet an den alten Farmer, der sie unentgeltlich auf seinem Grund und Boden wohnen ließ. Tsali kam herbeigetrottet, rollte sich auf dem abgetretenen bunten Baumwollteppich zu ihren Füßen ein und grunzte zufrieden.
Tayanita hatte ein schönes, ruhiges und erfülltes Leben, das sie so führen konnte, wie es ihr gefiel. Sie dachte an George, und ein sehnsüchtiges Prickeln stieg in ihr hoch. Einen flüchtigen Moment lang stellte sie sich vor, wie es wäre, wenn er hier an ihrer Seite lebte. Ein schrilles hohes Pfeifen verscheuchte dieses Bild. Das Wasser kochte blubbernd. Tayanita nahm den Kessel von der Platte und brühte ihren Süßgrastee auf. Ihre Gedanken wanderten zu der jungen Frau, die in ihrem Apartment über dem Cottage Garden übernachtet hatte. Es kam ihr fast vor, als ob sich Hannah Mulligan auf der Flucht befände. Doch vor was, oder besser gesagt, vor wem? Ob sie Ärger mit der Polizei hatte? Das konnte sich Tayanita nicht vorstellen. Etwas Gehetztes lag in Hannahs Blick, sie wirkte nervös, aufgewühlt und traurig. Auch wenn sie sich bemühte, gefasst zu erscheinen, Tayanita war das unsichere Flackern in den schönen grünen Augen nicht verborgen geblieben. Sie ahnte, dass sich Hannah danach sehnte, sich ihr zu öffnen. Doch dafür kannten sie einander nicht lang genug. Hannah Mulligan schien nicht der Mensch zu sein, der Fremden auf Anhieb vertraute. Vielleicht würde sie das irgendwann tun – wenn sie länger in Willow Creek blieb. Tayanita fragte sich, warum Hannah in ihr Leben getreten war. Sie war überzeugt davon, dass alle Dinge magisch miteinander verwoben waren und nichts ohne Grund geschah. Während sie vorsichtig an ihrem heißen Getränk nippte, überlegte sie, was es mit Hannah Mulligan auf sich hatte und warum sie ihr über den Weg gelaufen war. Nun, sie würde es schon herausfinden.
Die Sonne hatte die Landschaft bereits in sattes goldenes Licht getaucht, als Tayanita ihre Tasse leerte und ins Spülbecken stellte. »Wach auf, Tsali.« Sie bückte sich, um über den warmen Hundekopf zu streicheln. »Lass uns nach Willow Creek aufbrechen und im Café nach dem Rechten sehen.«
Die dunkle Hündin öffnete ein Auge, blickte zu ihrer Herrin auf und gähnte jaulend. Unwillig schüttelte sie den Kopf.
»Schlafmütze«, schalt Tayanita sie liebevoll. »Rappel dich auf. Du kannst deine Vierbeinerträume im Cottage Garden weiterspinnen.« An der Tür nahm sie ihre Strickjacke vom Haken, schnappte sich Schlüssel und Tasche. »Komm Tsali, lass uns gehen. Es ist ein herrlicher Tag!«
*
Frustriert klappte Hannah das Telefon zusammen und verstaute es in ihrer Hosentasche. Schon wieder hatte sie Ellie nicht erreichen können. Es war wie verhext. Wo steckte ihre Großmutter nur? Gut, dann würde sie eben erst frühstücken und es später noch einmal probieren, beschloss sie, die Tür ihres Apartments hinter sich zuziehend. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass das furchterregende schwarze Ungeheuer diesmal nicht im Flur auf sie lauerte, und deshalb keine Gefahr bestand, von seiner nassen Schnauze abgeküsst zu werden. Tatsächlich schlief die Hündin friedlich zu Tayanitas Füßen an der Theke im Café, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Vorsichtshalber machte Hannah einen Bogen um das Tier. Schließlich wusste man ja nie. Sie hatte keine Erfahrung mit Hunden. Als Kind hatte sie sich sehnsüchtig einen Welpen gewünscht, aber Ellie behagte der Gedanke nicht, jeden Tag mehrmals mit dem Tier Gassi gehen zu müssen. Sie tröstete Hannah stattdessen mit einem Hamster – Mr. Barney. Dieser hatte leider irgendwann den Zaun seines Freigeheges im Garten durchbrochen und sich auf Wanderschaft begeben. Hannah sah ihn niemals wieder.
»Guten Morgen«, begrüßte sie Tayanita.
Die Cherokee sah von ihrer Zeitung auf. »Guten Morgen, Hannah. Haben Sie gut geschlafen?«
»Danke. Wie ein Murmeltier.« Wenn man von den schrecklichen Albträumen mal absah. Hannah erwiderte das Lächeln.
Tayanita musterte sie freundlich, und Hannah hatte das Gefühl, die Indianerin würde bis auf den Grund ihrer Seele blicken.
»Ich werde mich mal setzen.« Etwas verlegen deutete sie mit dem Daumen zu einem Tisch am Fenster.
»Machen Sie das. Sylvia wird sicher gleich bei Ihnen sein.« Tayanita nickte ihr aufmunternd zu, bevor sie sich erneut
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