Hannas Entscheidung
kein Problem dar. Den Account würde sie sowieso nie wieder nutzen. Sie öffnete die Seite, gab ihren Benutzernamen an und ihr Passwort. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Wenn sie sich irrte, würde sie keine Mail von Viktor vorfinden, wenn sie recht hatte, gäbe es eine. So sicher, wie sie ein paar Augenblicke zuvor gewesen war, fühlte sie sich nicht mehr. Der Zugang war neu, sodass sich nur wenige E-Mails darin befanden. Eine davon hatte den Absender IRA7436 samt einer MP3-Datei als Anhang. Sie klickte darauf, schloss die Augen, wappnete sich gegen die nächsten Sekunden. Ein dumpfer Schlag war zu hören, Ninas Stimme ertönte. Man konnte sich nicht wappnen, wenn man beim Sterben eines Menschen zuhörte, ohne etwas tun zu können. Dieselbe Hilfelosigkeit, dasselbe Entsetzen, dieselbe Frage und dieselbe Schuld.
Niemand sprach, nachdem die Aufnahme gestoppt hatte. In ihrem Kopf hörte Hanna das Klappern der Absatzschuhe und verband es mit einem anderen Tag, an dem sie das Klackern von Absätzen auf einem Steg gehört hatte. Derselbe Rhythmus – Angelika Winter, damals bei Lukas an der Hütte. Dieses Miststück! Sie öffnete die Augen und sah direkt in das entsetzte Gesicht von Paul. Verdammt, sie hatte nicht darüber nachgedacht, dass Nina seine Kollegin gewesen war. Sie biss sich auf die Unterlippe. Pauls Hand zitterte, als er ihr die Maus abnahm und mit einem rechten Mausklick das MP3-File auf dem Laufwerk speicherte.
»Du hattest das File die ganze Zeit?« Die Kälte in Bens Stimme hätte eine Frostschicht auf ihrer Haut erzeugen können. Was dachte dieser Vollidiot von ihr?
»Nein.« Sie wusste, sie müsste es erklären. Aber wie?
»Die E-Mail ist von gestern«, kam ihr Paul zu Hilfe.
»Viktor hat sie geliebt.« Sie spürte den Kloß im Hals, sah ein lachendes, sommersprossiges Gesicht vor sich. Frustration mischte sich mit Angst und Wut. »Aber hat sie ihn auch geliebt? Oder hat sie nur seine Gefühle für ihre Sache benutzt? War das ihr Job?« Kalt musterte sie die Männer im Raum. Niemand antwortete ihr. Diese Frage hätte ihr nur Nina beantworten können. »Ich denke, Viktor wurde erst in dem Moment, als er dem Mord an Nina zuhören musste, klar, worauf er sich eingelassen hatte. Bis dahin ging es für ihn um Daten, um das Verstecken und Manipulieren von Informationen, nicht um Gefahr und Tod und schon gar nicht um Mord.«
»Und warum – vorausgesetzt Viktor Samuels empfindet so etwas wie Reue – wendet er sich mit diesen Informationen erst jetzt an uns?«
Die Emotionslosigkeit in Bens Stimme jagte Hanna ein Schauer über den Rücken.
»Warum wartet er über ein Jahr, nimmt diesen komplizierten Weg über dich in Kauf, mit Files, Passwörtern und dem ganzen Krimskrams? Er bietet uns Hilfe an, weshalb?«
»Er will nicht in den Knast, deshalb diese komplizierte Vorgehensweise.« – Und er empfindet keine Reue vor dem System, wurde Hanna mit einem Mal klar. Nie würde Viktor sich dieser in seinen Augen selektiven Gerechtigkeit stellen, in der sich Opfer vor Tätern verstecken mussten, ihr Leben aufgaben, wenn sie sich nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß befanden, einem mit der gleichen Macht das Leben zur Hölle machten. »Er tut es für mich – nicht aus Reue.«
Die Stille dehnte sich nach ihren Worten ein zweites Mal in die Länge.
Diesmal unterbrach sie der Oberst. »Also gut, Paul, versuchen Sie Kontakt herzustellen und sehen Sie, was er uns noch zu bieten hat.«
Ben presste die Lippen aufeinander, verschränkte die Arme vor der Brust.
»Major Wahlstrom, ich möchte mit Ihnen reden.«
Beide standen auf und verließen den Raum.
»Es tut mir leid«, flüsterte Hanna Paul zu, der regungslos vor seinen Rechnern verharrte und mit leerem Blick auf die Bildschirme starrte.
»Kanntest du sie?«
»Ja«, gab sie zu.
»Sie war das reinste Energiebündel und konnte reden ohne Punkt und Komma.«
»Wie lange habt ihr zusammengearbeitet?«
»Drei Jahre. Sie hat sich freiwillig für den Job gemeldet.«
»Undercover?«
Seine Mundwinkel verzogen sich. »Ja. Sie meinte, das wäre viel spannender, als hier im Büro zu sitzen und eine Verfolgungsjagd auf dem Computer vorzunehmen.«
Sie schwiegen, hingen beide ihren Gedanken nach.
»Mit jemandem zu schlafen ... gehört nicht zum Job.« Er sah Hanna an. »Ich weiß nicht, ob sie ihn geliebt hat, aber sie mochte ihn bestimmt, sonst hätte sie sich nicht auf ihn eingelassen.«
»Sie halten es für einen Fehler?« Oberst Hartmann, ließ sich
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