Hannas Entscheidung
...?«
»Dreihundert«
»Oh Gott, ich glaube, mir wird übel.«
»Quatsch, der Raum ist abgedunkelt, du konzentrierst dich einfach auf das, was du erzählst, und eine Dreiviertelstunde später ist alles vorbei. Du setzt dich an deinen zugewiesenen Platz an einem der vielen runden Tische, machst ein wenig Small Talk, und ehe du dich versiehst, ist der Abend gelaufen.«
»Die rechte oder die linke?«
»Warte lass mich sehen.« Marie trat zu Hanna an den Spiegel.
Aufmerksam verglichen sie Maries Augen mit der linken und der rechten Kontaktlinse, die sich Hanna ins Auge gesetzt hatte. Ihre Schwester wechselte die Seite.
»Die Linke, oder?«
»Ja«, bestätigte Marie. »Puh, ist doch irgendwie ein bisschen gruselig, oder?«
»Onkel Richard wartet unten auf dich. Dein Rückflug lautet auf den Namen Sabine Schmidt. Er wird dir nicht von der Seite weichen, und du versprichst mir, bei ihm zu bleiben.« Das war der Teil des Plans, der Hanna am wenigsten gefiel. Marie, die in ihre Rolle schlüpfte und mit ihrem Tarnnamen in ein Flugzeug stieg.
Doch es erschien ihnen als die beste Lösung. Seit dem Vorfall in Rom hatte niemand mehr versucht, sie zu entführen. Die Abendmaschine um halb sieben aus New York würde ihren Onkel und Marie zurück nach Berlin bringen, wo sie am nächsten Morgen gegen elf Uhr landeten. Dort trafen sie sich dann in der Privatwohnung des Forschungsleiters von Medicare, dem Marie die wahre Geschichte über die Vorfälle in Afrika erzählen würde. Er musste am Ende beurteilen, ob die Daten reichten, um eine Presseerklärung herauszugeben – der heikle Punkt. Marie wusste nicht, wie der Forschungsleiter reagieren würde. Da käme Onkel Richard ins Spiel. Maries unmoralisches Handeln musste vor dem Umstand in den Hintergrund gestellt werden, dass man in der Lage wäre, ein HIV-Heilmittel zu entwickeln. Immerhin zählte HIV zu den Viren mit der zweithöchsten Ansteckungsgefahr nach dem Grippevirus.
»Muss der Kamm sein?«
»Ja, er lenkt den Blick des Betrachters auf diese Hälfte deines Gesichts, und damit fällt die kleine Macke auf der rechten Wange weniger auf.«
»Die ist unter Zentimetern von Schminke vertuscht worden. Außerdem fallen die Haare darauf.«
»Trotzdem sollten wir nichts riskieren, und du liebst es, dir ständig die Haare hinter die Ohren zu schieben. Also – der Kamm bleibt. Klar.«
Amüsiert betrachtete Hanna ihre kleine Schwester im Spiegel. Als hätte die Verkleidung auch ihr Selbstbewusstsein und den Kommandoton, der sonst ihrer war, hervorgerufen.
»Klar, kleines Schwesterchen.«
Marie schulterte den Rucksack. »Die Schminke in meinem Gesicht ist völlig für die Katz.«
Hanna schnappte sich die silberfarbene, lange Strickjacke und die Handtasche ihrer Schwester. Sie knickte beim ersten Schritt um und fluchte. »Wie kannst du dich nur mit solchen Schuhen selbst misshandeln?«
»Sie machen die Beine länger, heben den Hintern hoch und lassen dich sexy erscheinen.«
»Und sie machen die Füße kaputt.«
»Wer schön sein will, muss leiden. Und wehe, du machst meinen Ruf zunichte, weil du pampig bist. Denk dran, immer lächeln, immer strahlen, freundlich sein zu denen die in deiner Liga sind und die anderen höflich ignorieren.«
»Dir ist klar, dass wir darüber reden müssen, wenn das hier überstanden ist.«
Das Grinsen in Maries Gesicht verschwand. »Ich weiß, dass ich eine arrogante High-Society-Göre bin, aber das ist Image. So bin ich in Wirklichkeit nicht.«
»Aber so warst du.«
»Autsch! Du hast recht, und ein Stück weit steckt es noch in mir drin. Ich verspreche dir, an mir zu arbeiten.« Sie brach in Lachen aus, als Hanna die nächsten Schritte auf den Stöckelschuhen versuchte. »Hanna, es ist ganz einfach, tu so, als würdest du auf Zehenspitzen gehen. Du darfst nur nicht zuerst die Ferse aufsetzen.«
»Hast du nicht welche, die weniger hoch sind?«
»Nein. Also los, du zuerst. Ab jetzt heißt du Marie Ziegler, vergiss das nicht. Du hast den Ablauf noch im Kopf?«
»Ja, ich fahre mit dem Taxi zurück ins Hotel Peninsula. Dort gehe ich auf mein Zimmer und warte, bis mich der Fahrdienst der WHO abholt.«
Sie umarmten sich ein letztes Mal vorsichtig, um nichts von Hannas Aufmachung zu zerstören.
Der Kamm in Hannas Haar wich zwei Haarklammern, eine davon schlicht und dunkelbraun, die andere glitzernd mit einer Perle darauf. Sie hoffte nur, dass die Perle nicht echt war, so wie die anderen Dinge, die sie heute trug. Erst hatte sie das
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