Hannas Entscheidung
Eine Bewegung auf dem Weg zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, und ihr blieb für den Bruchteil einer Sekunde das Herz stehen, als sie einen Mann im schwarzen Trenchcoat auf ihre Mutter zugehen sah. Nein, das konnte nicht sein. Wie war das möglich? Ein wenig abgewandt, aber so, dass sie die Bank im Auge behielt, hockte sie sich nieder.
Armin Ziegler, ihr Stiefvater. Wie konnte es sein, dass er hier auf dem Friedhof herumlief? Er setzte sich zu Silvia auf die Bank, doch ihre Mutter reagierte nicht auf ihn. Ihr Blick war weiterhin auf das Grab gerichtet. Armin rückte näher zu ihr hin, beugte sich vor. Langsam drehte Silvia den Kopf und sah ihn an. Sie zog die Beine an, straffte die Schultern und reckte den Hals, dann stand sie auf und wandte sich von ihrem Ehemann ab. Noch einmal trat sie vor das Grab, küsste ihre Fingerspitzen und legte sie nicht auf Hannas Namen, sondern auf den ihres Vaters. Ohne Armin eines weiteren Blickes zu würdigen, lief sie mit derselben straffen Haltung, mit der sie sich erhoben hatte, auf den Ausgang zu. Hanna spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Armin saß reglos auf der Bank und starrte seiner Frau hinterher. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand er auf, trat ans Grab und spuckte darauf. Dann bückte er sich, nahm die weiße Rose, ging zum Mülleimer und warf sie hinein. Erst dann verschwand er vom Friedhof. Dass sie die Luft angehalten hatte, merkte Hanna erst, als Schwindel sie erfasste. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was sie soeben beobachtet hatte. Sie wartete, bis die Dämmerung hereinbrach. Erst dann gab sie auf.
Gemeinsam mit Lisa und Tom aß sie zu Abend. Vorher hatte sie sich die Kontaktlinsen herausgenommen, ihre Haare aufgeschüttelt, sich wieder ein T-Shirt und ihre Jogginghose angezogen. Tom strahlte heute, als hätte er im Lotto gewonnen, dabei hatte ihm Lisa nur endlich erzählt, dass sie einen Sohn bekommen würden. Belustigt folgte sie der ehelichen Debatte über einen Namen für das Kind. Als Lisa schließlich um ihre Meinung bat, wusste sie, dass sie sich auf einem gefährlichen Pfad bewegte.
»Ehrlich?«
»Was denn sonst!«, fauchte die Schwangere sie an.
»Keinen.«
»Keinen?«, echoten die Eheleute Jung gemeinsam. Tom hatte offensichtlich erwartet, die Freundin seiner Frau würde Partei für sie ergreifen. Lisa schien geschockt, weil sie es nicht tat.
»Nein.«
»Ach, hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?«
»Nein.«
»Wenn du schwanger wärst und wüsstest, du bekommst einen Sohn – wie würdest du ihn denn nennen?«
»Bin ich nicht.«
»Das weiß ich, aber nehmen wir es einfach nur mal an.«
Das Klingeln des Telefons erlöste Hanna davon, verbal in die Ecke gedrängt zu werden.
»Das ist dein Bruder – pünktlich wie immer«, kommentierte Tom.
Lisa stand auf und ging zum Telefon.
Hannas Herzschlag beschleunigte sich. Sie versuchte mitzubekommen, worüber die beiden sprachen, konnte aber nichts verstehen, so sehr sie sich auch anstrengte.
»Wo habt ihr beide euch eigentlich kennengelernt?«
Es war nur eine harmlose Frage von Tom, die Hanna ins Schwitzen brachte, weil sie keine Ahnung hatte, was sie darauf sagen sollte.
»Über Ben.«
»Oh. Bist du beim Militär?«
»Nein.«
»Was machst du beruflich?«
»Fotografieren.«
»Interessant. Stammt das Bild aus Norwegen von dir?«
Diesmal erhielt Tom ihre volle Aufmerksamkeit. Was hatte sie gesagt? Fotografieren? Vor lauter Anstrengung zu lauschen, hatte sie seinen Fragen nicht gerade volle Aufmerksamkeit geschenkt.
»Ich soll dich schön grüßen.« Lisa kam in die Küche zurück.
»Alles klar bei ihm?«
»Ja, aber er hörte sich ziemlich müde an.«
»Ich dachte, du hättest seinem Oberst gesagt, dass er noch nicht wieder einsatzfähig ist. Wieso ist er überhaupt schon wieder unterwegs?«
»Irgendein Notfall, und er ist nicht im Einsatz, er soll nur ein bisschen Background-Arbeit machen.«
»Hast du ihm gesagt, dass Julia zu Besuch ist?«
»Julia?«
»Na, ich«, mischte sich Hanna ein und war froh, als der verwirrte Gesichtsausdruck aus Lisas Miene wich. Irgendwann hatte sie mal gelesen, dass Schwangere nicht in der Lage seien, komplizierte Rechenaufgaben zu lösen. Sie hoffte, dass sie in der Lage waren, Patienten zu behandeln und darüber hinaus noch einen einzelnen gefakten Namen im Kopf zu behalten.
»Ich habe Tom erzählt, dass wir uns über Ben kennengelernt haben«, fügte sie ihren längsten Satz am heutigen Abend hinzu.
»Ja, und ich dachte, sie
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