Hannas Entscheidung
merken. Die ersten vier Ziffern brauchte sie sich nicht einmal zu merken. Sie wusste, dass die 0171 die Vorwahl in ein Handynetz war. 42 222 86 – die Nummer, konnte sich jeder leicht merken.
Zurück in der Innenstadt kaufte sich Hanna in einem Telefonladen ein günstiges Handy samt Prepaidkarte. Mit dem Guthaben schickte sie eine SMS an die Nummer: »Hi Marie MUMIDERE deine ABFF«, was die Kurzform für »Hi Marie, muss mit dir reden, deine allerbeste Freundin für immer» war. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: »Hi TRSOWIIM 730 deine ABFF«, also »Hi, treffen uns so wie immer 7:30 Uhr«.
Hanna schaltete das Handy ab. Jetzt musste sie sich ein weiteres Outfit zulegen und die Zeit bis abends um sieben Uhr dreißig herumbekommen.
Tom und Lisa waren zusammen auf einem Geburtsvorbereitungslehrgang. Hanna hatte ihrer Freundin einen Zettel mit dem Hinweis hingelegt, dass sie erst später wieder nach Hause käme. Sie wollte nicht, dass sich Lisa unnötig Sorgen machte. Die neuen Klamotten hatte sie im Schließfach am Bahnhof deponiert. In der Toilette wechselte sie ihr Outfit. Diesmal zog sie ein schlichtes, nicht zu auffälliges, schwarzes Etuikleid an und darüber einen schwarzen Strickbolero. Er war einfach gehalten, nur die Unterkante war durch eine gehäkelte Lochborte abgesetzt. Eine hautfarbene, glänzende Feinstrumpfhose und vier Zentimeter hohe Absatzschuhe, die sich laut Verkäuferin beim Laufen wie Turnschuhe anfühlen sollten, rundeten das Outfit ab. Den Rucksack packte sie in das Schließfach, wählte stattdessen für die notwendigsten Utensilien eine Handtasche aus. Sie behielt die grüne Augenfarbe bei, zog einen Lidstrich und umrundete die Lippen mit einem hellen Konturstift, sodass sie größer wirkten. Dafür hatte sie einen Kupferton als Farbe gewählt. Ihre Wangenknochen betupfte sie mit einem dunklen Rouge. Damit wirkte ihr Gesicht länger und schmaler. Eine Perücke sparte sie sich. Stattdessen kämmte sie die Haare straff zurück, befestigte sie mit Klammern eng am Kopf, und ließ damit ihre natürlichen Locken verschwinden. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel und entschied, dass sie sich selbst fremd genug war. Das Kleid kam von der Länge genau richtig hin – bis zum Knie. Die Aussage war klar. Schaut mich an, aber lasst die Finger von mir.
Sie betrat die Lieblingsbar ihrer Schwester eine halbe Stunde vor der Zeit. Das gab ihr die Möglichkeit, sich eine günstige Ecke zu suchen, von der aus sie unauffällig zur Toilette verschwinden konnte, nahe genug am Hinterausgang, für Notfälle. Die Nischen und die geschwungene U-Form der Räumlichkeit, in deren Zentrum sich die Bar befand, machten es unmöglich, die gesamte Bar im Blick zu behalten. Deshalb wählte sie einen Kompromiss. Das Kommen und Gehen empfand sie als wichtiger als die Nischen. Trotz des frühen Abends war die Bar zu gut einem Drittel mit Gästen gefüllt. Sie war ein Insidertipp für Leute aus der Wirtschaft. Ein Getränk kostete hier so viel, dass Hanna damit ihre Verpflegung für einen Tag hätte bestreiten können. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als Marie um Geld zu bitten. Die letzten Tage hatten ihre wenigen Reserven aufgezehrt.
Marie kam mit zwei Freundinnen – Veronika und Anna – gegen Viertel vor acht. Tatsächlich war Anna eine der ältesten Freundinnen von Marie. Ihr Verhältnis hatte sich dann während der Ehe mit Lukas gelockert. Die kleine Gruppe ließ sich an einem Tisch in Barnähe nieder.
Hanna freute sich keineswegs, dass Marie so geschickt damit umging, ihr Treffen zu tarnen. Im Gegenteil, es jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken, zeigte es doch, dass es einen guten Grund dafür gab.
Die zwei Männer betraten die Bar kurz nach den drei Frauen. Sie fügten sich perfekt in die Umgebung ein. Einzig und allein weil sie auf ihrem Weg zur Bar keine der Frauen eines Blickes würdigten, zogen sie Hannas Aufmerksamkeit auf sich. Hätten sie stattdessen Interesse aneinander gezeigt – auch kein Thema, schließlich war die Schwulenszene von Berlin bekannt.
Hanna begann sich mit ihrem Handy zu beschäftigen, was nicht weiter auffällig wäre, da man damit heutzutage in guter Gesellschaft war. Sie schaltete den Blitz für die Fotos aus, worunter zwar die Qualität der Bilder leiden würde, aber das ließ sich nicht ändern. Mit der richtigen Bearbeitungssoftware könnte sie vielleicht trotzdem genug herausholen.
Nachdem die Männer sich erst eine Weile an der Bar
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