Hannas Entscheidung
wäre beim Militär, aber sie hat mir erzählt, dass sie fotografiert.«
»Hast du?«
Hanna nickte. Tom kniff die Augen zusammen und betrachtete seine Frau.
»Lizzy, geht es dir gut?«
»Wieso fragst du?«
»Weil du einen leicht verwirrten Eindruck auf mich machst.«
»Nein, äh ja, äh – ach egal. Ich glaube, ich bin nur müde, der Tag war heute anstrengend, und dein Sohn gibt auch keine Ruhe.«
»Mein Sohn? Ach soweit sind wir schon? Wenn er was ausfrisst, ist er mein Sohn?«
Mit einem Grinsen strich ihm Lisa liebevoll über die Wange und küsste ihn auf den Mund. »Natürlich. Was denkst du denn? Von mir bekommt er nur all die positiven Eigenschaften.«
»Also, wie habt ihr euch denn nun kennengelernt?«
Hanna hegte den Verdacht, dass Tom nur deshalb so hartnäckig an dem Thema festhielt, weil er einer weiteren Diskussion über einen Namen für seinen ungeborenen Sohn aus dem Weg gehen wollte.
»Wie Julia schon sagte, über Ben. Sie ist Fotoreporterin und in eine brenzlige Situation geraten. Ben hat sie da herausgeholt und ich konnte sie zusammenflicken. Daraus ist dann unsere Freundschaft entstanden.« Lisa warf Hanna einen flüchtigen Blick zu.
Hanna nickte anerkennend. Das alles entsprach absolut der Wahrheit, und es beeindruckte sie, wie geschickt Lisa ihre Worte gewählt hatte.
»Also keine Liebesgeschichte zwischen dir und Ben?«
Sie verschluckte sich an einer Tomate, hustete und Toms Grinsen weitete sich, während Lisa sie mit einem abwesenden Blick ansah.
»Nathanael«, stieß Hanna zwischen zwei Hustenattacken hervor.
»Nathanael?«, wiederholte das Ehepaar verständnislos.
»Ja, das wäre meine Namenswahl für einen Jungen.
Bevor sich das Gesprächsthema vom Baby weg erneut auf sie wenden konnte, wünschte Hanna den beiden eine gute Nacht.
Hanna hatte früh morgens das Haus verlassen. Nebelfelder hingen über dem Friedhof. Ihr Outfit bestand diesmal aus engen Jeans, Boots, einer schwarzen Lederjacke und einem schwarzen T-Shirt darunter. Eine Perücke versah sie mit einer langhaarigen, strähnigen, künstlich schwarzen Haarpracht. Schwarz geschminkte Lippen und ein aufgeklebtes Nasenpiercing rundeten ihre Erscheinung apart ab.
Sie wählte diesmal eine andere Ecke vom Friedhof aus. Dort konnte sie zwar den Eingang nicht beobachten, sah aber, wenn sich jemand zum Grab hin bewegte. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis Marie an das Grab herantrat, im dunkelblauen Kostüm, hochhackigen Schuhen, einem dunkelblauen, eleganten, halblangen Trenchcoat. Die Haare hatte sie mit einer Spange locker nach oben gesteckt. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet.
Seltsam, in das eigene Abbild eines schöneren Selbst zu schauen. Hanna spürte, wie ihr Tränen in die heute wieder grünen Augen stieg. Oh Gott, wie sehr hatte sie ihre Schwester vermisst! Alles in ihr schnürte sich zusammen.
Marie bückte sich, legte eine frische weiße Rose auf das Grab, erhob sich und drehte sich zu ihr um, als hätte sie ihre Anwesenheit gespürt. Ihre Blicke trafen sich. Die Erde hörte auf sich zu drehen, die Geräusche verschwammen. Regungslos starrten sie sich an. Hanna setzte als Erste einen Fuß in Maries Richtung. Kaum merklich schüttelte ihre Schwester den Kopf, mit einem leichten Neigen des Kopfes zeigte sie in die Richtung schräg hinter sich, die Hanna von ihrer Stelle nicht einsehen konnte. Marie wandte sich zurück zum Grab, holte so tief Luft, dass sich ihr Brustkorb sichtbar hob und senkte. Die Hand, die Hanna sehen konnte, kam aus der Manteltasche. Dann fing sie an, mit den Fingern Nummern zu zeigen. War eine Zahl fertig, macht sie eine Wischbewegung mit der flachen Hand. So wusste Hanna, wenn sie etwas addieren musste. Sie hatte mit der Faust für die Null begonnen. Im Kopf visualisierte Hanna die Nummer. Zwei Durchläufe schaffte sie.
»Frau Ziegler?« Ein hochgewachsener Mann im schwarzen Mantel trat an Marie heran.
»Ja, ich komme«, antwortete sie. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, stöckelte sie den Pfad zurück zum Ausgang.
Hannas Knie zitterten so sehr, dass sie sich einen Moment auf einen Grabstein setzte. Ihr Onkel lag falsch. Nicht sie befand sich in Gefahr, sondern Marie. Wer auch immer der Mann war, der sich mit auf dem Friedhof aufgehalten hatte, er war nicht mitgekommen, um ihre Zwillingsschwester zu beschützen, sondern um sie zu überwachen. Zum Glück brauchte Hanna meistens eine Zahl nur einmal kurz sehen oder vor ihrem inneren Auge zu visualisieren, um sie sich zu
Weitere Kostenlose Bücher