Hannas Entscheidung
aufgehalten hatten, wählten sie einen Tisch nicht weit von Hanna entfernt. Das gab ihr die Gelegenheit, weitere Fotos zu schießen. Marie und ihre Freundinnen blieben keine zehn Minuten allein an ihrem Tisch. Kein Wunder. Veronika mit ihren naturblonden Haaren und einem weniger natürlichen üppigen Busen, den sie gekonnt zur Schau stellte, zog Männer besonders an. Ihr rot geschminkter Schmollmund tat ein Übriges.
Um Viertel nach acht stand Hanna auf und schlenderte Richtung Toilette. Beim Aufstehen warfen ihr die Männer einen flüchtigen Blick zu, konzentrierten sich dann aber scheinbar auf ihre Handys. Ein Mann an der Bar grinste Hanna zu und hob sein Glas. Betont arrogant hob sie die Augenbraunen, ließ ihre Augen an ihm herabwandern und sah seine Courage, sie anzusprechen, sichtlich schwinden. Es gab leichtere Beute in dieser Bar.
Wow – die Damentoilette war ein echter Hammer. In einem Vorraum standen zwei Stühle vor einem Spiegel, daneben gab es drei Waschbecken. Durch eine Tür kam man zu den Toiletten. Dezente Beleuchtung, marmorne Platten für die Ablage – kein Wunder, dass die Getränke so viel kosteten. Sie setzte sich auf einen der Stühle und tat so, als bessere sie ihr Make-up auf. Zwei Frauen kamen, eine verließ die Toilette, wusch sich die Hände, zog sich die Lippen nach und pushte ihren Busen in die Höhe. Erst das Lächeln der Frau im Spiegel ließ Hanna erkennen, dass sie die Frau unbewusst angestarrt hatte. Eine weitere Frau kam herein, die leicht schwankte. Als Hanna erneut in den Spiegel schaute, sah sie über ihrer Schulter ihr eigenes Gesicht mit großen Augen an. Sie verharrte, schluckte und stand langsam auf. Dann lagen sie sich in den Armen.
»Ich wusste, dass du nicht tot bist. Ich hätte es gefühlt. Oh, mein Gott«, flüsterte Marie. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Beruhigend streichelte Hanna ihren Rücken.
»Unglückliche Liebe?«, fragte eine der Frauen, die von der Toilette kamen, mit einem verständnisvollen Blick auf Marie. Anstelle einer Antwort nickte sie.
»Es gibt so vieles, was ich dir sagen muss. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, aber ich kann nicht so lange bleiben, sonst fällt es auf.« Sie öffnete ihre Handtasche, nachdem sie sichergestellt hatte, dass sie allein im Vorraum waren. Sie gab Hanna einen Hunderter. »Du brauchst bestimmt Geld.« Ein Schlüssel folgte. »Hufelandstraße 11a, Prenzlauer Berg, in der vierten Etage. Die Wohnung gehört Anna. Sie muss nachher sowieso arbeiten und kommt erst in vier Tagen zurück. Solange kannst du dort erst mal bleiben. Meine neue Wohnung ist schräg gegenüber in der fünften Etage in der Esmarchstraße. Gib mir Zeit bis Mitternacht.«
Marie drückte ihre Wange an ihre, wollte verschwinden, aber Hanna hielt sie fest.
»Wer sind die Typen?«
Marie schüttelte den Kopf. Eine Frau kam rein, stutzte kurz, als sie Hannas festen Griff um den Arm der anderen Frau sah. Sie ließ los, sah zu, wie Marie wieder aus der Tür entschwand. Nach einem letzten kritischen Blick ging die Frau zur Toilette weiter. Hanna folgte ihr und schloss sich in einer der Kabinen ein. Sie ließ sich noch ein wenig Zeit, bevor sie ebenfalls in die Bar zurückkehrte.
Diesmal zog sie keine Aufmerksamkeit mehr auf sich. Sie bestellte ein zweites Glas Chardonnay, das sie in Ruhe trank, tippte dabei auf ihrem Handy herum. Zwischendrin lächelte sie, so als würde sie per SMS eine Unterhaltung führen oder sich auf dem Handy in irgendeinem sozialen Netzwerk bewegen. Schließlich bezahlte sie die Getränke, stand auf und verließ die Bar.
Um die Ecke standen Taxis. Sie ließ sich direkt zum Bahnhof bringen. Dort wanderte sie über verschiedene Bahnsteige, stieg in Züge ein und wieder aus, bis sie sicher war, dass ihr niemand folgte. Erst dann ging sie zu ihrem Schließfach, holte ihren Rucksack heraus, nahm ihn mit zur Toilette und verwandelte sich wieder. Diesmal kamen Jeans, T-Shirt und Jeansjacke mit Sneakers dran. Die Haare verschwanden unter einer Kappe, und sie befreite ihr Gesicht von Schminke. Ihre Augenfarbe änderte sie in einen Braunton.
Statt zu laufen, nutzte sie jetzt die öffentlichen Verkehrsmittel, um vom Bahnhof aus zur Familie Jung zu kommen.
Sie stieg hoch in Bens Wohnung, zog das Bett ab, lief in den Keller zur Waschmaschine und steckte das Bettzeug in den Schnellwaschgang. Als Nächstes ging sie prüfend durch die Wohnung, korrigierte und säuberte, wo es ihrer Meinung nach notwendig war. Als sie erneut vom
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