Hannas Entscheidung
dachte, dass Papa sie mir nie gegeben hätte. Du standest immer im Mittelpunkt mit deiner Verschlossenheit und weil du anfangs nie geredet hast.«
»Er hat dich genauso geliebt wie mich.«
»Nein, er hat mich anders geliebt, undich habe das nie verstanden. Kannst du dich noch an unseren einundzwanzigsten Geburtstag erinnern?«
»Du meinst, als uns Mama die Briefe von Papa gegeben hat?«
Marie nickte. »Du hast mir nie gesagt, was in deinem stand.«
»Dito«, erklärte Hanna ruhig.
Ihre Schwester bückte sich, griff in ihre Handtasche und holte eine Schachtel heraus. Sie öffnete sie und reichte sie Hanna. Darin lagen ein Ring mit einem Wappen und ein zweiter, von dem Hanna sehr genau wusste, dass es sich um den Ehering ihres Vaters handelte, der immer in einem Umschlag gelegen hatte. Auf seiner Innenseite war ‚Für immer dein – Silvia‘ eingraviert. Sowohl den Brief als auch den Ring hatte Hanna in einer kleinen Schatzkiste in ihrem Schrank aufbewahrt. Marie zog nun auch den Brief heraus und reichte ihn ihr.
»Papa war nicht nur Priester, sondern ein Ritter des Malteserordens – der Johannesbruderschaft. Ich habe deinen Brief nicht gelesen, weil ich glaube, dass er es nicht wollte.«
Sanft strich Hanna über den Umschlag. Jedes Wort war tief eingebrannt in ihrem Herzen, dennoch berührte es sie zutiefst, die geschriebenen Worte ihres Vaters wieder in den Händen zu halten, ein Stück ihres Lebens – ihres Seins. »Ich habe mich immer gefragt, ob er wusste, dass er diesen Geburtstag nicht mit uns erleben würde«, sprach sie leise.
»Ich denke, er wusste es.«
Die Sicherheit in Maries Stimme ließ sie aufblicken.
»Und er wusste, wenn ihm etwas passiert, würde Silvia sich von Armin wieder einfangen lassen. Wusstest du, dass die beiden vor Mamas Zeit mit Papa zusammen waren und dass Armin Mama einen Heiratsantrag gemacht hatte? Sie lehnte ihn ab, weil sie erst ein soziales Jahr absolvieren wollte. Sie suchte nach einem Sinn in ihrem Leben und sie fand ihn in Gabriel. Dafür brach sie sogar mit Oma und Opa.«
»Wann hat Mama dir das erzählt?«
»Vor ein paar Jahren. Das Verhältnis zu Opa hat sich nie wieder richtig eingerenkt, und sie war bei seiner Beerdigung nicht dabei. Erinnerst du dich nicht mehr?«
Doch, Hanna erinnerte sich. Silvia hatte erklärt, dass sie eine weitere Beerdigung nicht ertragen würde. Und das hatte sie ohne Nachfragen akzeptiert.
»Er hat mir den Siegelring der Malteser gegeben und wusste genau, dass ich mich damit beschäftigen würde. Es hat mich zutiefst berührt.« Marie brach ab und wartete, bis die neuen Tränen wieder aufhörten, zu fließen. »Ich wollte dazugehören, aber das ist nicht so einfach. Du kannst dich in den Orden nicht einkaufen oder Anspruch auf Mitgliedschaft erheben, weil dein Vater Ritter des Ordens war. Du musst es dir verdienen.«
»Du wolltest Ordensfrau bei den Malteserrittern werden?«
Marie nickte. »Hör auf mich so anzustarren, als säße ein Alien vor dir. Das war der Zeitpunkt, als ich Katie Merz begegnete, und in mir reifte der Gedanke: ein Heilmittel gegen AIDS – ja, genau das wäre ein Beitrag, den niemand ignorieren könnte.«
»Du hast dafür Kinder als Versuchsobjekte benutzt.«
»Nein, Hanna, das habe ich nicht. Wann hast du angefangen, so über mich zu denken? Was dachtest du von mir? Dass ich ein Monster bin?«
Diesmal heulte sie so sehr, dass es sie am ganzen Körper schüttelte.
Hanna wollte sie in die Arme nehmen, doch Marie stieß sie weg. »Lass mich, ich will zu Ende reden. Ich dachte, du wärst tot, ohne jemals die Wahrheit erfahren zu haben. Mama hat nie an deinen Tod geglaubt. Aber ich dachte, wenn du lebtest, dann würdest du mir ein Zeichen geben. Doch das blieb aus.«
Ihre Worte trafen Hanna wie Messerstiche. Marie hatte recht, sie hätte sich nie auf das Zeugenschutzprogramm einlassen dürfen. Sie hätte ihre Mutter und Marie vertrauen müssen, und gemeinsam wären sie stark genug gewesen.
»All die Jahre finanzierte ich von einem Teil meines Gehalts diese Forschung. Lange blieb es unentdeckt, doch dann trat der Fall Timothy Ray Brown auf, der erste weltweit geheilte HIV-Patient hier in Berlin. Ein wichtiger Schritt, auch wenn die Umstände seiner Heilung nicht auf andere HIV-Patienten übertragbar waren. Dennoch gab es Hoffnung und Ansätze für die Forschung. Weißt du, das Problem sind die Schläferzellen, in die sich das Virus eingenistet hat. Je länger eine Infektion unerkannt im Körper eines
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