Hannas Entscheidung
Keller hochkam, wo sie die Bettwäsche in den Trockner gepackt hatte, hörte sie Stimmen in der Praxis, dann das Weinen eines Kindes. Lisa hatte Patienten? Um diese Zeit? Sie ging hinein, sah Licht in einem der Untersuchungsräume.
Eine junge Frau saß mit blassem Gesicht auf einem Stuhl. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Die eine Hand über den Unterleib gelegt, streichelte sie mit der anderen einem Kind über das Haar. Lisa stand vor den beiden.
»Lass mich Mami untersuchen, dann geht es ihr gleich besser. Möchtest du ein Gummibärchen?« Sie griff hinter sich auf den Tisch zu einem Glas. Sekundenschnell begriff Hanna die Situation, schlüpfte ins Zimmer und kniete sich vor das Kind.
Dankbar nickte ihr Lisa zu.
»Hi. Ich bin Julia. Cooles T-Shirt hast du an – Spiderman.«
»Das ist ein Schlafanzug.« Der Junge mochte vielleicht sechs Jahre alt sein. Mit seinen verweinten großen Augen sah er Hanna an. Die Finger, die er in der Jacke der Mutter festgekrallt hatte, lösten sich ein wenig.
»Oh, okay. Also, auf meinen Schlafanzug käme kein Spinnenmann, ich finde Iron Man besser.«
»Ach der«, der Junge machte eine wegwerfende Geste, »der kann doch nur was, weil er einen Anzug hat. Hulk ist viel besser.«
»Nein, der ist gruselig – sieht so harmlos aus als Professor, aber wehe, das Biest kommt raus.«
»Hast du auch einen Sohn?«
»Wieso, nur weil ich die Avengers kenne?«
»Die Avengers? Wer ist das denn?«
Hanna schob den Jungen vom Stuhl weg, sodass Lisa der Mutter auf die Liege helfen konnte.
»Die kennst du nicht?« Im Schneidersitz setzte sie sich auf den Boden, und der Junge tat es ihr gleich. Während Lisa die Mutter untersuchte und behandelte, erzählte Hanna dem Jungen die Geschichte der Avengers, angefangen bei Captain America über Thor, Black Widow, Hawkeye und Hulk bis hin zu Iron Man. Gebannt lauschte ihr das Kind und vergaß darüber völlig alles andere.
»Komm Kevin, wir können nach Hause«, wurden sie unterbrochen.
»Mama, Julia kennt alle Comicfiguren.«
Die Mutter lächelte erschöpft und zog ihren Sohn an sich. »Danke«, flüsterte sie.
Hanna erhob sich. »Kein Problem. Sind Sie mit dem Auto hier?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir sind mit dem Taxi gekommen.«
»Ich habe Ihnen schon ein neues gerufen, Frau Winter, setzen Sie sich ruhig noch, bis es da ist.« Lisa saß an ihrem Schreibtisch und tippte Daten in den Computer ein. »Auch wenn Sie keine Schmerzen mehr haben, sollten Sie es langsam angehen lassen.«
»Ich muss mal«, quengelte Kevin.
»Darf ich dir den Weg zeigen?«, bot Hanna dem Jungen an. Er nickte und ergriff ihre Hand, die sie ihm entgegenstreckte.
Sie wartete vor der Tür, bis er fertig war. Eine Praxis konnte in der Nacht unheimlich sein. Gemeinsam gingen sie zurück in das Untersuchungszimmer. Die Gesichtsfarbe der Mutter hatte einen normalen Ton angenommen.
Es klingelte an der Vordertür.
»Bleib sitzen.«
Die Ränder unter Lisas Augen zeigten ihre Erschöpfung. Hanna half der Frau vom Stuhl und begleitete die beiden zu ihrem Taxi. Als sie gefahren waren, ging sie zurück.
»Wie kommt es, dass du so gut mit Kindern umgehen kannst?«
Hanna zuckte mit den Achseln. »Kinder sind einfach. Erwachsene sind kompliziert.«
»Du gehst?«
»Woher weißt du –?«
»Ich habe gesehen, dass du die Bettwäsche in die Waschmaschine gesteckt hast.«
Hanna nickte. »Ich muss.«
»Wann?«
»Gleich«
»Willst du nicht noch wenigstens eine Nacht bleiben?«
»Es geht nicht.«
»Wie erreiche ich dich?«
»Ich melde mich bei dir.« Hanna schloss Lisa in ihre Arme. »Darf ich?«
Die Schwangere nickte.
Vorsichtig streichelte sie über den Bauch, in dem ihr Patenkind für ein Fußballmatch zu trainieren schien. »Hey, du kleiner Mann, du sollst lieb zu deiner Mutter sein.«
»Pass auf dich auf«, flüsterte Lisa mit Tränen in den Augen.
Nachdem sie Bens Bett mit der Bettwäsche aus dem Trockner bezogen hatte, war Hanna mit einem Umweg über den Bahnhof zur Hufelandstraße gefahren. Es war nur ein paar Ecken von der Bar entfernt, in der sie mit Marie verabredet gewesen war. Das Appartment bestand aus nur wenigen Räumen und besaß eine lang gezogene Fensterfront, weshalb sie kein Licht machte. Statt des Betts im Schlafzimmer wählte sie die Couch in Annas Arbeitszimmer für die Nacht aus. Das Zimmer besaß nur ein kleines Fenster Richtung Innenhof.
Im Arbeitszimmer gab es eine Wand mit Postkarten von allen Ländern und Städten, die Anna als
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