Hannas Entscheidung
Hanna. Zwar war ich sicher, du würdest nichts finden, schon gar nicht in der kurzen Zeit, weil wir alle Daten von Medicare gesäubert hatten, vor allem die aus der Forschungseinrichtung und was mit dem toten Mädchen in Afrika zu tun hatte. Aber wenn Nina in dem Fall drinsteckte ...« Er hob kurz den Kopf, streifte ihr Gesicht mit einem Blick, bevor er auf seine Hände starrte. »Ich hänge da selbst zu tief mit drin. Verstehst du?«
»Nein, verstehe ich nicht«, erwiderte Hanna ruhig. Übelkeit stieg in ihr hoch.
»Ich habe dich beschützt! Nina hatte alle Informationen einschließlich Zeitangaben an diesen Paul weitergeleitet. Ihr hast du es zu verdanken, dass sie sich an dich drangehängt haben. Mann, sie hätten dich gehabt, wenn du das zweite Zeitfenster benutzt hättest. Ist dir das überhaupt klar?«
»Du hast Lukas informiert.«
»Nein, Angelika. Sie hat gesagt, ich sollte mir keine Gedanken machen und sie würde sich um das Problem kümmern.« Tränen rannen über seine Wange, die er mit einer heftigen Handbewegung wegwischte. »Ich hatte doch keine Ahnung, was sie damit meinte.«
»Angelika Winter hat Nina getötet?«
»Nein, sie hat sich wirklich nur gekümmert. Solche Arbeiten hat Lukas erledigt. Er war noch in der Nacht bei ihr, hat sie erwürgt, aus dem Haus geschafft und sie dann in der Havel entsorgt.«
Er sagte es mit einer solchen Sicherheit, als wäre er selber dabei gewesen. Hanna starrte ihn an, versuchte den Menschen, der ihr das erzählte, mit dem Mann zusammenzubringen, den sie als ihren besten Freund angesehen hatte. Sie atmete flach, traute sich nicht, die nächste Frage zu stellen, aber das brauchte sie auch nicht. Er schluchzte, holte sein Handy hervor und tippte auf ein paar Tasten. Hanna hörte einen dumpfen Schlag, dann Ninas Stimme: »Nein, bitte!« Röcheln, Füße schabten über den Boden, dann einen Moment Stille. Lukas‘ Stimme sagte ruhig und kalt: »Schade Nina, hättest dabei bleiben sollen, mit Viktor zu vögeln.« Etwas Schweres schleifte über den Boden. »Verflucht bist du schwer. Mann, stinkt das.« Es polterte mehrmals, Plastik raschelte, ein Reißverschluss ratschte, dann klapperten Stöckelschuhe auf dem Boden, und eine Frauenstimme sagte: »Geh, ich kümmere mich um den Rest. Sieh zu, dass du das Paket loswirst.« Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Die Frauenstimme fluchte leise, und die Aufzeichnung endete.
»Ich hatte immer einen Reserveplan für so einen Fall.« Er sprach so leise, dass sie ihn kaum verstand. »Die ersten Reaktionen spulten sich automatisch ab. Ich hatte Panik, dachte nicht weiter nach. Dann, als mein Verstand wieder ansprang, überlegte ich, wie ich dich erreichen sollte. Du hast ja verflucht noch mal kein Handy. Ich rief in deiner Wohnung an, ließ es schellen – nichts, fuhr zu deiner Wohnung – nichts. Zuletzt meldete ich mich anonym bei der Polizei und schickte sie auf die Suche nach dir. Ein paar Tage später las ich in der Zeitung, dass du bei einem Brand in einer Hütte am See umgekommen bist.« Er zuckte die Achseln, kramte Papiertaschentücher aus seiner Jacke und schnäuzte sich. »Mein Gott, ich dachte, du wärst tot und ich würde dich nie wieder sehen.«
»Warum hast du das ...«, sie deutete auf das Handy, »... nicht der Polizei übergeben?«
»Es hätte doch nichts geändert. Nina ist tot, und Lukas wurde festgenommen.«
Hanna atmete vorsichtig ein. »Angelika Winter aber nicht.«
»Sie weiß zu viel über mich. Außerdem hat nicht sie Nina ermordet.«
Hanna schloss kurz die Augen, versuchte zu verarbeiten, was sie eben gehört hatte. Nein, sie mochte nicht Hand an Nina gelegt haben, und doch hatte sie ihren Tod zu verantworten.
»Erlaube dir darüber kein Urteil, Hanna! Du hast deinen Stiefvater nie vor Gericht gebracht. Hättest du das getan, wäre ich niemals in diese Scheiße reingeraten.«
»Du gibst mir die Schuld dafür?« Fassungslos schnappte sie nach Luft.
»Nein. Ja. Verdammt, ohne dich hätte ich Armin nie kennengelernt. Er hätte mir den Job bei IT-Security Task-Force nicht besorgt. Ich wäre Angelika Winter niemals begegnet und auch nicht Lukas Benner«, fauchte er wütend und herausfordernd. Er wollte, dass sie ihm widersprach, suchte nach jemandem, dem er die Schuld für seine Entscheidungen in die Schuhe schieben konnte. Oh, Viktor, dachte sie, wann wirst du begreifen, dass du selbst für deine Handlungen verantwortlich bist? Er würde mit dieser Schuld leben müssen, und wenn er nicht
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