Hannas Entscheidung
trug eine Salbe auf seine juckende, heilende Wunde auf.
»Ich dachte, ich hätte was gehört.«
Sie sah ihn prüfend an. »Du glaubst immer noch, dass Hanna die bösen Buben zu uns geführt hat.«
»Elisabeth, wir haben es hier nicht mit bösen Buben zu tun. Das sind Profis.« Er wusste, dass sie es gar nicht mochte, wenn er ihren richtigen Namen benutzte. Sie fand ihn altbacken und überholt. Sie hatte lange versucht, ihn und seinen Vater davon zu überzeugen sie Beth zu nennen, war aber kläglich gescheitert. Der Name Lisa klang für sie nach Kuh, aber trotzdem besser als Elisabeth.
»Profis. Eben. Was haben sie davon, wenn sie uns etwas antun?« Bevor er antworten konnte, sprach sie weiter: »Gar nichts. Wir sind keine Bedrohung für sie, und sie bekämen einen Haufen Ärger, Aufsehen und Nachforschungen.«
Diese Diskussion führte sie seit dem Wochenende das x-te Mal.
»Fertig?«
»Womit? Mit dem Verband oder unserem Gespräch?«
Er nahm sein T-Shirt, streifte es sich über und stand auf.
»Nur, weil du etwas nicht hören willst, und versuchst es zu ignorieren, ändert das nichts an den Tatsachen!«, rief sie ihm hinterher.
Er parkte sein Auto diesmal weiter entfernt von dem Wohnblock und näherte sich dem Gebäude von der Hufelandstraße her. Es gab einen Zuweg von dieser Seite in den Innenhofbereich mit einer hübschen kleinen Grünanlage. Ein Spielplatz, ein kleines Sportfeld und ein Grillplatz vervollständigten die Anlage. Das metallische Klicken einer Tür ließ ihn einen Blick zurückwerfen, und er blieb stehen. Der federnde, effiziente Gang der jungen Frau erinnerte ihn sofort an Hanna, doch sie hatte lange lockige Haare, die ihr bis über die Schultern reichten. Sie trug Sneakers, dunkelblaue Leggins mit Spitzenrand, die bis zur Mitte der Wade reichten und ein bauschiges blaues Sommerkleid mit kleinen pinkfarbenen Blumen, darüber eine Jeansjacke. Über die rechte Schulter hatte sie eine ausladende Tasche geworfen. Sein Blick folgte ihr, bis sie auf dem Bürgersteig um die Ecke und damit aus seinem Blickfeld verschwand. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Gebäude vor sich zu. Auf der Klingel suchte er sich einen Namen aus und drückte. Beim vierten Versuch hatte er Glück.
»Ja?«
»Hallo Frau Keller, mein Name ist Werner, ich bin Journalist von der TAZ. Wir planen einen Bericht über das Wohnen am Prenzlauer Berg. Hätten Sie vielleicht zehn Minuten Zeit für mich?«
Er hatte sich so hingestellt, dass er komplett von der Videokamera erfasst wurde – in Jeans, einem T-Shirt mit dem Aufdruck ‚Ich bin ein Berliner‘ und Sportjacke sowie mit einer Mappe in der Hand. Frau Keller hatte Zeit.
Nachdem er seinen Presseausweis gezeigt hatte, durfte er eintreten. Bei einer Tasse Kaffee stellte er seine vorbereiteten Fragen, plauderte mit der Frau über die wunderschöne Wohnanlage und darüber, was aus dem guten alten Prenzlauer Berg geworden war. Als ihre sechs Monate alte Tochter aufwachte, die sie ihm stolz zeigte, erfuhr er auch gleich, dass sie ihr zweites Kind erwartete. Er fragte sie nach der Nachbarschaft. Frau Keller berichtete von dem letzten Innenhoffest mit Grillen im letzten Herbst, vom Sommerfest, auf das sie sich freute, und von der Hausgemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützte. Selbst mit den Besitzern der Eigentumswohnungen klappe alles wunderbar. Sie kenne Marie Ziegler, sagte sie, und schwärmte von ihr als einer Frau, die immer ein paar nette Worte übrig habe, wenn sie sich begegneten. Es sei ja so wichtig für eine angenehme nachbarschaftliche Atmosphäre, dass sich die passenden Leute in einem Haus fänden. Eine Frau aus dem gegenüberliegenden Gebäude, Anna, habe Marie auf die zum Verkauf stehende Wohnung aufmerksam gemacht.
»Anna?«
»Ja – Anna Lohmann, Stewardess und Freundin aus Kindheitstagen«, ergänzte sie. »Ach, sie reist so viel in der Weltgeschichte herum. Wenn sie anfängt zu erzählen, will man sich direkt ins Flugzeug setzen und in ferne Länder losziehen.«
Ben fand es immer wieder erstaunlich, was Menschen einem erzählten, wenn man sich Zeit nahm und ihnen zuhörte. Er bekam Frau Kellers E-Mail-Adresse, damit er ihr den Artikel zukommen lassen konnte. Sie sei eine fleißige Leserin der TAZ.
Er hatte erfahren, dass Maries Putzfrau immer am Montag- und Freitagmorgen kam. Das Schloss der Wohnungstür zu knacken, war ein Kinderspiel. Sicherheitshalber zog er sich eine Maske über, falls die Wohnung von Kameras überwacht wurde.
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