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Hannas Entscheidung

Hannas Entscheidung

Titel: Hannas Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Rachfahl
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Doch das glaubte er wegen der Bodyguards nicht. Nach zwei Stunden wusste er, dass Marie sich intensiv mit dem Thema HIV auseinandersetzte, und das nicht erst seit dem letzten Jahr. Er kannte ihre Pläne für einen Urlaub in Jamaika Anfang Juni, ihr Gehalt und die Prämien, wusste, dass sie zu den Frauen gehörte, für die Schuhe ein Suchtmittel darstellten und sie kein einziges praktisches Stück Unterwäsche besaß – das absolute Gegenteil ihrer Zwillingsschwester. In ihrem Büro in der Wohnung gab es eine sehr schöne illustrierte, ledergebundene Bibel, was ihn überraschte. Sie war voll mit schmalen Klebezetteln. Manche Verse hatte sie angestrichen. Bisher hatte ihr Verhalten nicht durchblicken lassen, dass ihr leiblicher Vater irgendeinen Einfluss auf Maries Leben gehabt hätte. Genauso gab es ein Haufen von Gedichtbänden. Soso, dachte er, so abgebrüht Marie erscheint, zeigt sich doch, dass sie zumindest eine romantische Ader hat.
    Die letzte Bestätigung fand er in der umfangreichen Sammlung von Romanen – meist der dramatischen Art – und einem Regal voller DVDs, das sich mit dem seiner Schwester messen konnte. Es gab Fotoalben von der Familie, erstaunlich viele sogar der Familie Rosenbaum, eine lange Reihe von Fotos mit ihrer Zwillingsschwester in allen Altersstufen. Überall in ihrer Wohnung fanden sich Fotografien, die von Hanna stammten. Er tauchte ein in die Stille gewaltiger Berge, bewunderte das Bild eines Flusses, der sich durch einsame Landschaften schlängelte, wohnte den Sonnenaufgängen über Meeren, Wüsten, Steppen und Dschungel bei, umgab sich mit Lavendel, Mohn und Raps. Dazwischen fand er in Form von modernen Wandtattoos Verse:
    »Denn bei Dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Licht schauen wir das Licht. Psalm 36,10«, »Ich bin eine Blume auf den Wiesen des Scharon, eine Lilie der Täler. Hoheslied 2,1«, »Weise mir, Herr, deinen Weg; ich will ihn gehen in Treue zu dir. Richte mein Herz darauf hin, allein deinen Namen zu fürchten. Psalm 86,11« und »Heil mich, Herr, so bin ich heil, hilf mir, so ist mir geholfen, ja mein Lobpreis bist du. Jeremia 17, 14«.
    Und dann, ganz frisch, der letzte Vers, neben einem Bild von Hanna als Zweijährige auf dem Schoß ihres Vaters, der ihr ein Bilderbuch vorliest, den Daumen in den Mund geschoben, in der Faust der anderen Hand ein Stück der Strickjacke, die ihr Vater trägt:
    »Du hast mich den Tiefen des Totenreichs entrissen. Denn groß ist über mir deine Huld. Gott, freche Menschen haben sich gegen mich erhoben, die Rotte der Gewalttäter trachtet mir nach dem Leben; doch dich haben sie nicht vor Augen. Psalm 86, 13-14«
    Wenn er auch keinen Hinweis auf einen möglichen Verbleib von Hanna gefunden hatte, so verließ er mit einem widersprüchlichen Gefühl über Marie Ziegler deren Wohnung. Vielleicht hatte er sich bisher von einer Maske in die Irre führen lassen.
     
    So kam er nicht weiter. Fast zwei Tage waren vergangen. Er hatte am Dienstag den Rest der Zeit damit verbracht, verschiedene Stellen aufzusuchen, die er in irgendeiner Weise mit Hanna in Verbindung brachte. Ihre ehemalige Wohngegend, die Universität, die Gegend, in der ihr Freund Viktor gewohnt hatte. Mittags aß er bei dem Italiener, wo er damals sie und Philip Bornstedt gestört hatte, verbrachte eine Zeit am Flughafen und eine wesentlich längere am Bahnhof, einfach um ein Gefühl für die Stadt und ihre Möglichkeiten zu bekommen. Zuletzt fuhr er zu dem Haus, in dem Familie Rosenbaum gelebt hatte, und ging dort in die Kirche. Von dort aus besuchte er den Friedhof, wo eine frische weiße Rose auf dem Grabstein lag.
     
    Zurück in seiner Wohnung machte er sich Notizen, betrachtete Stadtpläne, kreiste Gebiete ein. Wo konnte sie sein? Welche Möglichkeiten gab es? Er zog seine Sportsachen an und begann mit einem Work-out. Hotel, Pension oder Herberge kam nicht infrage, da Hanna dort einen Ausweis vorzeigen müsste. Außerdem schränkte ihr finanzieller Engpass sie ein. Es sei denn, Hanna schob ihren Stolz beiseite und ließ es zu, dass Marie ihr unter die Arme griff. Ihr Bekanntenkreis schien so klein, da sie in den ersten Tagen zu Lisa gegangen war, um einen Unterschlupf zu finden, obwohl dieser das Risiko barg, dass Ben dort jederzeit auftauchen konnte. Zu ihrer Mutter und Armin konnte sie auf keinen Fall gehen. Viktor wurde seit einem Jahr gesucht, und sie wussten nicht, wo er sich versteckte. Über ihn lagen kaum Informationen vor, und selbst im Netz gab es nichts zu

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