Hannas Wahrheit (German Edition)
sie den Leihwagen wegbringen. Ein lästige Angelegenheit, weil das Carsharing Unternehmen, bei dem sie Mitglied war, gestern kein Fahrzeug frei gehabt hatte. Der junge Mann mit den schwarzen Haaren war ihr schon einmal aufgefallen. Natürlich wirst du überwacht, du Schaf, dachte sie erbost. Die Schlinge um ihren Hals zog sich langsam zu.
Hanna hatte einen Autoverleih gewählt, der in der Nähe einer S-Bahnstation lag. Zurück wählte sie nicht den normalen Ausgang aus der Tiefgarage der Firma, sondern den Weg über die Nottreppe. Sie stieg in die nächste Bahn, wechselte ein paar Mal die Richtung, bis sie sich sicher war, dass sie ihren Verfolger abgeschüttelt hatte. Schließlich stieg sie an der Haltestelle Treptower Park aus.
Diesmal benutzte sie nicht ihren Zweitschlüssel, sondern klingelte brav an der Tür. Ein zerknautschter Viktor kam ihr entgegen.
„Seit wann klingelst du?“, brachte er zwischen einem lauten Gähnen hervor.
„Ich wusste nicht, ob du alleine bist.“
Er grinste und fuhr sich verlegen durch sein zerzaustes Haar.
„Ziemlich ungewohnt, was? Komm rein, Nina schläft noch tief und fest.“
Während Viktor die Kaffeemaschine anmachte, überlegte Hanna, inwieweit sie ihren besten Freund in diese Sache hineinziehen konnte. Einerseits bot er ihr die perfekte Möglichkeit, an die Informationen heranzukommen, die sie benötigte. Anderseits war ihr gestern klar geworden, wie gefährlich dünn das Eis war, auf dem sie sich bewegte. Sie musste eine Lösung finden, um nicht die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Sie war sich nicht sicher, wie weit ihr Stiefvater darin verwickelt war.
Ein ganzes Dorf auszulöschen, war eine Maßnahme, die sie ihm nicht wirklich zutraute. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er die Fassung verloren hatte, als damals die Polizei bei ihm auftauchte und ihn verhörte, es ging um die hingerichteten Entführer.
Es war letztendlich egal, wer hinter dem Überfall auf das Dorf steckte. Diese Leute verstanden keinen Spaß. Wie hatte Major Wahlstrom es gestern formuliert: Das Leben eines Menschen war für sie nicht mehr wert als das Ungeziefer unter ihren Schuhen. Doch wenn sie an die Informationen bei Medicares heran wollte, dann führte kein Weg an Viktor vorbei. Weder besaß sie das technische Know-how, um die Sicherheitsmaßnahmen der IT-Security Task-Force zu umgehen, noch hatte sie eine Ahnung, wie man sich in so ein System überhaupt reinhackte. Einen kleinen Vorgeschmack von dem, was möglich war, hatte sie durch ihren eigenen Trojaner erhalten. Aber kein Programm konnte das suchen, wonach sie mit ihrem Verstand, ihrem Wissen um die Vorgänge und ihrer Vergangenheit zu suchen in der Lage war. Sie musste direkt an die Daten kommen.
Viktor stellte ihr einen Becher Kaffee vor die Nase.
„Was ist los, Hanna?“
Sie hob ihren Kopf und sah ihn an. Die Ruhe und Sicherheit, die sie noch kurz zuvor empfunden hatte, war verflogen. Was machte sie hier? Wollte sie wieder schuld am Tod eines anderen Menschen sein? Major Wahlstrom wusste bereits von Viktor, Armin womöglich auch? Wurde sie nicht nur von der Polizei, sondern auch von ihrem Stiefvater überwacht?
„Hanna, du weißt, dass ich immer für dich da bin. Nur weil ich Nina habe, heißt das nicht, dass sich zwischen uns etwas ändert. Du bist immer noch meine beste Freundin und ich dein bester Freund. Ist es das, was dich verunsichert?“
Sie schüttelte den Kopf, lächelte flüchtig.
„Ich bin nicht eifersüchtig.“
„Autsch.“
Sie lächelte, und Viktor grinste zurück.
„Ich brauche deine Hilfe“, wurde sie wieder ernst. Das Grinsen in Viktors Gesicht verschwand. Sie sah, wie er versuchte, in ihren Augen zu lesen. Unbehaglich senkte sie den Blick. Es war nicht richtig, was sie hier machte. Viktor zu bitten, ihr Zugang zu einem der Kunden seiner Firma zu ermöglichen, konnte ihn nicht nur den Job kosten. Es konnte ihn sogar in ernste Gefahr bringen. Das war kein Freundschaftsdienst mehr. Es gab jemanden, der nicht gezögert hatte, ein ganzes Dorf von Menschen zu töten. Würde er tatsächlich vor ihnen haltmachen, nur weil sie in Deutschland waren? Sie hatte weder eine Ahnung, wonach sie suchte, noch eine Ahnung davon, was sie finden würde. War es besser, Major Wahlstrom anzurufen? Sie schloss die Augen. Aber was, wenn Marie irgendwo zwischen dem stand, was passiert war, und genauso unschuldig war wie sie? Was, wenn sie Marie in Gefahr brachte, nur weil sie nicht wusste, was
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