Hannas Wahrheit (German Edition)
einem sanften Goldton. Er konnte die Wärme spüren, die ihr Körper ausstrahlte. Ein Wissen, ein Verstehen, ein Verzeihen und ein Bitten. Er versuchte, sich dieser Ausstrahlung zu entziehen. Öffnete den Mund, schloss ihn. Wandte die Augen von ihr ab, es reichte nicht. Abrupt stand er auf.
Sie konnte sehen, wie er zu einer Lüge ansetzte. Er hob den Blick, und sie wartete auf seine falschen Worte. Sie kamen nicht, stattdessen stand er auf und begann, die Sachen in den Kühlschrank und in die Spülmaschine zu packen. Verwirrt beobachtete sie ihn dabei. Was ging in seinem Kopf vor? Was hatte ihn dazu bewogen, nicht auf ihre Feststellung zu reagieren? Würde er ihn tatsächlich töten, wenn es die Situation ergab? Nein, das konnte und wollte sie sich nicht vorstellen. Sie waren hier in Deutschland. In einem Rechtsstaat. Da tötete das Militär keine Menschen, auch wenn sie ein Verbrechen begangen hatten.
Er drehte sich zu ihr um. Die Lippen aufeinandergepresst, die Wangenknochen traten scharf hervor.
„Fein, du bist mich los.“ Er riss einen Zettel von ihrem Block an der Wand, auf dem sie Einkäufe notierte, schrieb eine Nummer auf. Den Zettel legte er vor ihr auf den Tisch.
„Ich nehme mal an, dass du meinen ersten Zettel mit meiner Telefonnummer weggeworfen hast. Also ein zweites Mal. Du kannst mich unter der Nummer erreichen, egal zu welcher Zeit. Überleg dir, ob du bereit bist, einen Menschen zu opfern, damit viele in der Zukunft leben können.“
Mit dem Gesicht dicht vor ihrem zeigte er auf die Collage an der Wand. Ihr Blick wanderte automatisch auf den Jungen, das Foto im Zentrum. „Er hatte noch sein ganzes Leben vor sich.“
Major Wahlstrom wandte sich von ihr ab. Nachdem sie sich aus der Erstarrung gelöst hatte, folgte sie ihm. Sie wollte sicher sein, dass er aus ihrer Wohnung verschwand. Er stand an der Tür, mit seinen feuchten Kleidungsstücken in der Hand. Aber sie wollte die Klamotten, die sie ihm geliehen hatte, auch gar nicht wieder haben. Seine Hand lag auf der Klinke. Er wandte sich zu ihr um.
„Hanna, du wirst dich für eine Seite entscheiden müssen.“ Seine undurchdringlichen Augen ruhten auf ihr.
Sie verschränkte die Arme schützend vor ihre Brust, presste die Lippen aufeinander. Sie schüttelte den Kopf. „Es gibt keine Seiten.“
Er trat von der Tür noch einmal auf sie zu. Unwillkürlich wich sie zurück, bis sie die Wand in ihrem Rücken spürte. Sie saß in der Falle. Ihr fiel das Atmen schwer. Er stand jetzt dicht vor ihr. Eine maßlose Bedrohung.
„Doch, es gibt genau zwei Seiten.“ Seine verschlossene rechte Hand schob sich vor ihr Gesicht. Dann begann er, mit den Fingern zu zählen. „Erstens, dein Stiefvater. Ein Mann, den der Tod der Menschen aus dem Dorf völlig kalt lässt. Sie haben keine größere Bedeutung für ihn als Ungeziefer unter seinen Füßen.“ Er legte eine Pause ein, wartete. Sie begann zu zittern. Ein zufriedenes, schneidendes Lächeln glitt über seine Züge. „Oder wir, die wir für Gerechtigkeit sorgen werden.“
Ihr stockte der Atem, sie versuchte, das Zittern ihres Körpers zu kontrollieren. Sie hielt seiner Bedrohung stand und ballte die Fäuste. Seine Augen verkleinerten sich zu schmalen Schlitzen.
„Überleg dir gut“, flüsterte er leise. „auf welcher Seite du stehen möchtest.“
Abrupt wich er zurück und verschwand aus der Tür. Langsam ließ sich Hanna die Wand hinuntergleiten. Sie zog die Beine dicht an ihren Körper und stütze ihre zitternden Arme auf sie.
Freundschaft
H anna verbrachte eine unruhige Nacht, in der sie von den Albträumen ihrer Kindheit eingeholt wurde. Der Polizist, der ihnen die Nachricht von dem tödlichen Autounfall ihres Vaters überbrachte. Der Moment, in dem jemand aus einem fahrenden Auto auf sie sprang und sie mit einer übel riechenden Flüssigkeit bewusstlos machte. Gefesselt an ein Bett, vergewaltigte und quälte man sie, bis ihr Herz stillstand. Der Schock des kalten Wassers, die Panik, zu ertrinken. Ein Mann, der ihr Luft in die Lungen blies und mit dem Handballen rhythmisch auf ihr Herz drückte. „Lebe, Johanna, lebe.“ Das Gesicht von Karl Hartmann verschwamm mit dem von Ben Wahlstrom. Verwandelte sich weiter in das des kleinen afrikanischen Jungen, der sie mit seinen tiefernsten, schwarzen Augen ansah, der Hauch von einem Lächeln in seinem Gesicht, als sie ihm seine Bilder zeigte. In seinem toten Gesicht sah sie stumpfe Augen, weit aufgerissene Augen, die sie niemals gesehen
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