Hannas Wahrheit (German Edition)
hatte. Wieder veränderte sich das Gesicht des Jungen, diesmal sah er sie mit einem vorwurfsvollen Blick an. „Ich musste sterben, weil du geschwiegen hast.“
Mit einem Japsen schreckte Hanna aus ihrem Schlaf hoch. Sie zog die Luft ein wie nach einer Hetzjagd. Tränen strömten über ihr Gesicht, Übelkeit stieg ihr im Hals hoch. Schnell rannte sie ins Bad und erbrach sich. Sie würgte, bis nur noch Galle kam. Sie wusch sich das feuchte Gesicht mit kaltem Wasser, spülte ihren Mund aus und griff zur Zahnbürste. Die Minzzahnpasta verbannte den bitteren Geschmack. Sie hielt sich mit beiden Händen am Waschbecken fest und starrte in den Spiegel. Du hast geschwiegen. Du bist eine Mörderin.
Statt in ihr Bett zurückzukehren, setzte sie sich mit einem heißen Pfefferminztee, den sie schlückchenweise trank, auf die Couch. Sie machte kleine Pausen, um nachzuspüren, ob ihr Magen erneut rebellierte. Sie hatte sich Kerzen angezündet, flackernd erhellten sie die Dunkelheit. Feuer besaß für sie eine magische Anziehungskraft. Es stand für Zerstörung. Alles konnte darin verbrennen, sogar die Schuld. Sie hatte ihren Vater als Kind einmal gefragt, weshalb Gott in dem Gleichnis des verlorenen Sohns dem Sohn verzieh, der alle im Stich gelassen hatte, und dem Sohn, der immer bei ihm geblieben war, nicht die gleiche Aufmerksamkeit gab. „Ist das so, Hanna?“, hatte er sie gefragt und ihr lächelnd über das Haar gestrichen. „Ist es nicht so, dass der Vater jeden Tag seinem daheim gebliebenen Sohn gezeigt hat, wie sehr er ihn liebte? Konnte dieser Sohn sich nicht genauso über die Rückkehr des verlorenen Bruders freuen wie sein Vater?“ Nachdenklich hatte Hanna die Stirn gerunzelte. „Jeden Tag, Hanna, wählen wir neu, welchen Weg wir in unserem Leben gehen wollen. Jeden Tag müssen wir uns aufs Neue für Gott entscheiden. Er hat uns den freien Willen gegeben, diese Entscheidung zu treffen. Manchmal, Hanna, wählen wir im Leben den falschen Weg, doch Gott gibt uns niemals auf. Er reicht uns immer die Hand und gibt uns die Möglichkeit, wieder neu auf seinem Pfad zu wandeln. Wir alle machen in unserem Leben Fehler, und doch wird Gott uns jeden Fehler verzeihen, wenn wir ihn ehrlich bereuen.“
Sie hatte damals einen Fehler gemacht. Einen Fehler, der ihr Leben in die Hand eines anderen Menschen gelegt hatte. Ihre Angst vor der Wahrheit, vor ihrer eigenen Schuld, der sie nicht ins Gesicht sehen konnte. Ihre Eifersucht auf ihren Stiefvater. Der Wunsch, ihre Mutter wieder für sich zu haben, denn in ihren Augen durfte Silvia keinen anderen Mann lieben als ihren Vater. Diese Gefühle hatten sie angetrieben, als sie ihren Stiefvater erpresst hatte. Es war nicht der Sinn nach Gerechtigkeit, der sie führte, als sie das belastende Material an die Presse übergeben hatte. Nein, sie hatte Schuld auf sich geladen. Eine Schuld, die sie mit ihren Bildern versuchte, jeden Tag aufs Neue reinzuwaschen. Doch wenn sie sich nicht selber verzieh, wie sollte ihr dann Gott verzeihen? Sie musste bereuen und ihre Reue beweisen. Es war ihr Glaube gewesen, der sie durch das tiefe, dunkle Tal ihres Lebens geleitet hatte. Aber sie hatte ihr Vertrauen in Gott verloren. Statt den Mut zu haben, zu ihren Fehlern zu stehen, hatte sie geschwiegen und sich zurückgezogen. Diesmal würde sie nicht schweigen, sondern die Wahrheit sagen. Doch erst musste sie wissen, was die Wahrheit war. In ihr kehrte Ruhe ein, als sie ihre Entscheidung getroffen hatte.
Sie setzte sich an ihren Rechner und fuhr ihn hoch. Sie sah auf den Bildschirm, dessen Fläche zu Leben erwachte. Und erstarrte. Die Leiche des afrikanischen Jungen erschien auf dem Monitor. Seine Augen, nicht sanft, sondern angstvoll aufgerissen. Rukia Mutai auf der Veranda, seltsam verrenkt. Ochuko mit dem Kopf im Dreck, verzweifelt, weil er nichts hatte machen können. Der Mann, der sie mit angelegtem Gewehr anstarrte. Ein kleines Mädchen, das eine Auge ein Loch, wo sie die Kugel getroffen hatte. Heftig haute Hanna auf die Escapetaste. Die Slideshow stoppte.
Sie schloss die Bilder und lehnte sich zurück, während sie scharf die Luft einzog. Das waren ihre beschlagnahmten Bilder! Er hatte sie ihr zurückgegeben. Major Wahlstrom. Grimmig schwebten ihre Finger über der Tastatur. Verdammter, verfluchter Mistkerl, was, wenn der Trojaner sich erneut auf ihrem System befand? Wütend fuhr sie das System wieder herunter. Sie schnappte sich ihren Schlüssel und machte sich auf den Weg.
Zuerst wollte
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