Hannas Wahrheit (German Edition)
linke Ohr etwas tiefer als das rechte. Seine Jochbeine waren stark ausgeprägt, sodass seine schmalen Augen in Höhlen lagen. Die Augenbrauen waren fein geschwungen. Sein dunkelbraunes Haar war an den Seiten kurz geschnitten, über der Stirn ein wenig länger. Hier standen Haare nach oben, obwohl sie nicht gegelt wirkten. Ein natürlicher Wirbel? Die Augenfarbe war ihr heute zunächst wie ein helles grün erschienen. Mit den dunklen Klamotten wirkten sie jetzt auch dunkler. Seine Nase war beneidenswert fein, klein und gerade geschnitten. Die Unterlippe voller als die Oberlippe. Der rechte Bogen länger als der Linke. Ein unauffälliges Gesicht, das wandelbar war.
Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, als er schließlich den Speicherchip aus der Innentasche seiner Kapuzenjacke nahm. Ihn zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, blieb seine Hand hinter der Stuhllehne.
„Dir ist klar, dass du den Chip nicht ohne Gegenleistung bekommst.“
Das Entsetzen und ihre Ablehnung schienen ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben zu stehen, dass er sie verblüfft und irritiert ansah. Dann hellten sich seine Augen auf, und er wurde tatsächlich rot. Jetzt war es an ihr, verwirrt zu sein.
„Einen Deal, versteht sich.“ Durch seine Worte klang eine Spur Empörung. Sie musste lächeln. Er schien ehrlich verunsichert zu sein.
Sie legte den Kopf schief, versuchte, den Menschen vor sich zu begreifen. Zwecklos. Ohne ihre Kamera war sie aufgeschmissen. Wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihn fotografierte?
„Hörst du mir zu?“
Hanna Rosenbaum, die sich gerade gedanklich auf die Suche nach ihrer Kamera gemacht hatte, konzentrierte sich wieder auf den Mann vor ihr.
„Was für ein Deal?“
„Du bekommst diese Fotos und später auch deine anderen von dem Überfall.“
Skeptisch sah sie den Soldaten vor sich an. Nach all dem Druck und der Überschreitung der legalen Grenzen verstand sie sein Entgegenkommen nicht.
„Letztere natürlich erst, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind.“
„Das wäre?“
Er lächelte. „Irgendwann.“
Sie ließ sich Zeit bei ihrer Überlegung, wägte ab, das konnte noch nicht alles sein. „Und ich schweige?“
„Exakt.“
„Ich wurde körperlich angegriffen.“
„Soweit ich mich erinnere, hatte ich die blutige Nase am Ende.“
Sie hob ihren rechten Arm, drehte ihn, sodass er die Außenseite sehen konnte. „Ich habe blaue Flecken.“
„Ist das, was unter dem Rand des T-Shirts rausschaut, ein Tattoo?“
Diesmal war es an Hanna Rosenbaum, zu erröten. Schnell brachte sie die Außenseite ihres Armes wieder außer Sichtweite. Sie schwiegen sich an. Sie war gut im Schweigen. Er auch. Schließlich siegte das Verlangen nach ihren Bildern. Sie wusste, auch mit einem Anwalt würde es Aussage gegen Aussage stehen. Ihre mangelnde Kooperation und die Gründe, weshalb sie die Bilder nicht hatte herausrücken wollen, konnten leicht missverstanden werden. Sie streckte ihre Hand aus. Seine Augenbrauen gingen fragend in die Höhe.
„Deal“, erklärte sie.
„Sicher?“
„Ja.“
Er legte den Speicherchip in ihre Hand. Beim Loslassen glitten seine Fingerspitzen über ihre Handfläche. Hanna spürte seiner Berührung nach. Sie betrachtete den Speicherchip und versuchte die Verwirrung, die dieser Mann in ihr auslöste, in den Griff zu bekommen. Es war eindeutig ihr Chip, von ihr mit Nagellack markiert. Sie musterte seinen Gesichtsausdruck, der schwer zu deuten war. In seinen Augen blitzte kurz etwas auf. War der Chip vielleicht nicht sauber? Sie war hin und her gerissen. Einerseits wollte sie endlich die verloren gegangenen Bilder sehen, andererseits traute sie ihm nicht über den Weg.
Die Frage war, ob seine Techniker besser waren als Viktor. Sie konnte ein kurzes Lächeln nicht unterdrücken, als sie an Viktor dachte. Es gab Momente, wo er unter Verfolgungswahn litt, nicht krankhaft, sondern aus einer Erfahrung heraus, die sie mit ihm teilte. Er war ein Meister im Umgang mit dem Computer, ihr Laptop war immer auf dem neusten Sicherheitsstand. Viktor versorgte sie mit Programmen, die nicht auf dem Markt erhältlich waren.
Vorsichtig, als wäre es eine Bombe, schob sie den Chip in den Slot ihres Laptops. Während die Bilder über ihren Bildschirm huschten, vergaß Hanna Rosenbaum die Anwesenheit des Soldaten. Der Sonnenaufgang. Ihr Aufbruch aus dem Lager. Staubwolken, und immer wieder Ochuko Mutai. Das Bild von dem Käfer, den sie fotografiert hatte, kurz bevor sie zum
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