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Hannas Wahrheit (German Edition)

Hannas Wahrheit (German Edition)

Titel: Hannas Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Rachfahl
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betrachtete ihr braun gebranntes Gesicht im Spiegel. Ihre blauen Augen wirkten heute dunkel und gingen ins Violette über. Ihre Gesichtszüge waren noch härter als sonst. Die schmalen Lippen, nahezu unsichtbar in ihrem Gesicht. Sie starrte konzentriert in den Spiegel, dann versorgte sie die Wunde an der Wange, die nach dem Duschen wieder aufgegangen war. In ihrer Reiseapotheke befanden sich alle möglichen Hausmittel, sie schluckte gleich noch ein paar Globuli. Immerhin tat ihr der Kopf nicht weh – ihr Schädel hatte schon mehr aushalten müssen. Sie lächelte ihrem Spiegelgesicht zu und stellte sich dabei die weichen Gesichtszüge ihrer Zwillingsschwester vor. Ihr Gesicht wurde zu einer Grimasse. Schnell wandte sie sich von dem Spiegelbild ab. Sie hatte nie verstanden, wie andere Menschen sie und Marie nicht auseinanderhalten konnten.
    Sie holte ihr Jagdmesser aus ihrem Gurt und schob es unter ihr Kopfkissen. Eine Waffe griffbereit zu haben, gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Eigentlich war es lächerlich, denn sie würde damit niemals jemandem etwas zuleide tun können. Bewusst rief sie sich das Gesicht des nigerianischen Angreifers ins Gedächtnis, sah sein maskiertes Gesicht, seine dunklen Augen und die Waffe, die er auf sie gerichtet hatte. Waren Ochuko Mutai, seine Schwester und der kleine Junge durch eine Kugel aus dieser Waffe gestorben? Irgendwann würde sie diesem Fremden vergeben müssen, um Ruhe zu finden.
    In ihre Decke gekuschelt versuchte sie einzuschlafen. Doch sobald sie ihre Augen geschlossen hatte, huschten die Bilder von dem Überfall immer wieder in ihrem Kopf umher. Sie ließ es zu, sie wusste, dass alles, was sie zu unterdrücken versuchte, seinen Weg doch gewaltsam an die Oberfläche suchte. Leise stimmte sie ein Gebet an, in der Hoffnung, dass die wohlvertrauten Worte den Toten und ihr Trost spenden würde. „Du hast sie aus dem Leben gerissen, die Kinder hatten noch ihr ganzes Leben vor sich. Wie soll ich sagen: Herr, dein Wille geschehe, denn er ist weise und gut, wenn du diese Menschen so schutzlos lässt. Ich weiß, nicht du bist es, der getötet hat. Lieber Gott, ich flehe zu dir: Nimm von mir die Gleichgültigkeit und alles Desinteresse. Lass mich die Wärme der Sonne wieder spüren und die Kühle des Regens. Gib, dass ich die Blumen auf den Wiesen und die Früchte der Bäume wieder sehe. Wann werden mich die Sorgen anderer Menschen, wann wird mich der Angstschrei eines Kindes zum Trösten wieder erreichen? Wie weit bin ich entfernt von allem Mitleid und stillem Glück? Die quälende Finsternis der Nacht ist meine einzige Gefährtin. Herr, wann erwärmst du mein erstarrtes Herz, wann gibst du mir ein Stück Leben, ein Stück Hoffnung auf das Gute in dieser Welt zurück?“
    Hanna suchte nach ihren Tränen, aber da war nichts. Neue, viel bedrohlichere Gedanken bemächtigten sich ihrer. Sie hatte versagt, sie hatte nicht über die Konsequenzen nachgedacht, die ihre Bilder nach sich ziehen konnten. Was wenn sie damit einen Konflikt in Nigeria heraufbeschwor? Sie wollte nicht für den Tod von noch mehr Menschen verantwortlich sein. Stöhnend verbarg sie ihren Kopf im Kissen. Warum hatte sie diesen vermaledeiten Chip nicht einfach zerstört? Stattdessen hatte sie ihn ausgerechnet in ihren BH gesteckt. War sie wirklich davon ausgegangen, dass ein Soldat Hemmung haben würde, ihren Körper abzutasten? Als sie die wandernde Hand erneut auf ihrem Körper spürte, kroch die Panik gleich wieder in ihr hoch.
    Sie runzelte die Stirn, drehte sich auf den Rücken. Nein, es war etwas Anderes gewesen, was sie in Panik versetzt hatte. Es war das Gefühl gewesen, das seine tastende Hand in ihr auslöste. Sie mochte keine Zärtlichkeiten, keine Intimität oder auch nur eine Berührung ihres Körpers. Meist war es eine Abwehr, ja Ekel, den sie verspürte, wenn jemand sie berührte. Aber nicht so bei ihm. Es hatte so viel Neutralität in seiner Berührung gelegen, so viel Zielgerichtetheit, dass es für ihn offenbar gar keine Rolle spielt, dass es ein Frauenkörper war, den er abtastete. Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte sie, dass jemand ihren Körper mit der gleichen Zärtlichkeit berührte, wie es Lukas bei Marie tat oder Armin bei Silvia.
    Sie sprang aus dem Bett, erschrocken von ihren eigenen Gedanken. Wieso hatte er seine Wut bekämpft, innegehalten und ihr eine weitere Chance gegeben, den Chip aus seinem Versteck zu holen? Sie setzte sich an den Tisch, nahm ein Blatt vom Briefpapier des Hotels

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